Samstag, 2. Februar 2013

Jesaja 55 Sexagesimae 2013


Predigt zu Jes 55

Washington D.C.. 12. Januar, 2007;  7 Uhr 51, Zeit der rushhour.
An der U-Bahn-Station steht ein Geiger.
Er spielt.
Er spielt virtuos.
Menschen hasten vorbei.
Die meisten, die an dieser Station austeigen, sind Regierungsbeamte, gehobener Mittelstand also.
In dem Moment, in dem sie vorbeigehen, müssen sie eine Entscheidung treffen:
Halte ich an um zuzuhören oder gehe ich weiter?
Gebe ich etwas Geld aus Höflichkeit?
Sollte ich mir Zeit nehmen für Schönheit? 
Was ist das angemessene Verhalten?
Maximal 15 Sekunden haben sie Zeit um diese Entscheidung zu treffen, dann sind sie an ihm vorbei.
Der Mann spielt.
Er spielt sehr gut, er spielt mit Hingabe, die Töne füllen die Halle des U- Bahneinganges.
In den ersten 3 Minuten nimmt niemand überhaupt Notiz von ihm.
Nach 63 Menschen wendet ein Mann beim Gehen den Kopf, bleibt aber nicht stehen.
Es bleibt in der ganzen dreiviertel Stunde eigentlich kaum einer stehen.
Ein paar schauen auf, verlangsamen den Schritt.
Und der ein oder andere wirft eine Münze hinein.
Ein paar Kinder an der Hand ihrer Eltern bremsen, wollen zuhören, aber die Eltern zerren sie weiter.
Sie wenden den Kopf nach dem Spieler, bis sie ihn aus den Augen verlieren.
Nach einer dreiviertel Stunde beendet der Geiger sein Konzert. 
32 Dollar und 17 Cent von 27 Menschen hat er verdient.
1070 Menschen sind an ihm vorbeigegangen.
7 Menschen sind stehen geblieben.
Das Spiel des Geigers war ein Experiment der Washington Post.
Bei dem Geiger handelte es sich um Joshua Bell, einem weltweit bekannten Geiger.
Er spielte auf seiner 3,5 Mio Dollar teuren Stradivari  ein Stück von Bach:
Die Chaconne in d-Moll.
Das ist kein Gassenhauer,
das ist eines der schwierigsten und elegantesten und emotionalsten Stücke,
die jemals geschrieben wurden. 
Und es folgen weitere Stücke , z.B. von Schubert das bekannte Ave Maria.
Die Frage, der die Post nachgehen wollte, war:
Wird Schönheit wahrgenommen,
wenn sie sich zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt,
morgens auf dem Weg zur Arbeit,
an einem ungewöhnlichen Ort wie der U-Bahn präsentiert?
Hat sie die Kraft, den Moment zu verändern und die Menschen aus ihrer Situation herauszuholen?
Eine  Karte für ein Konzert bei Bell kostet 100 Dollar.
Schon der Preis der Karte zeigt seinen Wert.
In diesem Rahmen wird er geachtet und gefeiert wie kaum ein anderer. 
Hier, an diesem Morgen,
haben die Menschen die Chance ein Gratiskonzert dieses berühmten Künstlers zu hören
und nehmen es nicht wahr, 
ignorieren ihn einfach.
Sie gehen an der Schönheit der Musik vorbei.
Sie sind taub dafür.

Schönheit hat anscheinend einen Ort.
Wird sie in fremde Umgebungen versetzt,
erscheint sie zu ungewöhnlichen Zeitpunkten,
hat sie keine oder nur wenig Kraft,
die Menschen zu bewegen und ihre Aufmerksamkeit zu verändern.

Pause

Das Volk Israel hängt durch.
Jedenfalls die Ober- und Mittelschicht.
Man hat sie nach Babylon deportiert.
Sie werden nicht gequält, es geht ganz gut soweit.
Aber die Sehnsucht nach Israel quält sie.
Gott, denken sie, ist fern.
Er hatte seinen Ort, den Tempel von Jerusalem.
Doch der ist zerstört.
Der Tempel war der Wohnort Gottes.
Dort konnten sie sich sammeln und sich Kraft für den Alltag holen. 
Die Schönheit der Gebete, der Gesänge, die sie erhoben hat aus ihrem Alltag – wo ist sie geblieben?
Und jetzt?
Ist es überhaupt möglich, Gott an diesem tristen Ort zu hören?
Ist er da?
Der Prophet Jesaja ist ein Virtuose der Sprache.
Er begreift sich als Instrument, auf dem Gott seine Melodien spielt,
damit die Menschen sein Wort hören.
Und er sagt ihnen: 

Jes 55
Suchet Gott, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist.
7 Wer Übles tut, verlasse den eingeschlagenen Weg, wer Unheil plant,  lasse von seinen Gedanken und kehre um zu Gott, so wird Gott sich liebevoll zeigen. Er kehre um zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.
8 Denn meine Pläne sind nicht eure Pläne, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht Gott,
9 denn wie der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Pläne höher als eure Pläne.
10 Denn wie Regen und Schnee vom Himmel herabfallen und nicht wieder dorthin zurückkehren, sondern die Erde tränken und sie fruchtbar machen und sprießen lassen, dass sie Samen gibt zu säen und Brot zum Essen,
11 so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer, nicht ohne Erfolg zu mir zurückkehren, sondern es wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.
12 Ja, ihr sollt mit Freude ausziehen und mit Frieden geleitet werden.

Jesaja spielt an einem ungewöhnlichen Ort.
Er wird es schwer gehabt haben, sich Gehör zu verschaffen.
Aber es ist ihm gelungen.
Menschen sind stehen geblieben und haben ihm zugehört haben.
Eine Folge davon war, dass seine Worte festgehalten wurden und ihre Kraft bis heute nicht verloren haben.
Die Menschen damals waren gefangen in ihrem Bemühen, den Alltag im fremden Land zu meistern,
gefangen in ihrer Trauer, in ihrem Heimweh,
auch gefangen in ihrer Art, ihre Beziehung zu Gott zu leben.
Gott ist da, überall, ganz nahe –
das war ein revolutionärer Gedanke für sie.
Wie revolutionär, das konnten sie erst ermessen,
als sie es zugelassen haben,
dass die Worte des Jesaja nicht nur ihr Ohr,
sondern auch ihr Herz und ihre Phantasie erreichten.
Gott ist da, überall, ganz nahe.
Das hat ihre Religiosität verändert.
Sie wurden unabhängig von Priestern und Gebäuden.
Sie wurden selbständig.
10 Männer mussten zusammenkommen,
dann war die Gottesdienstgemeinde in der Lage die Gebete, das Glaubensbekenntnis zu sprechen.
Persönlich konnte jeder mit Gott reden.
Aber zum gelebten Glauben gehört die Gemeinschaft.
Die allerdings kann sich überall zusammenfinden.
Es war nicht immer einfach in der Zukunft,
in kleinen Orten Männer freizubekommen von ihrer Arbeit.
Aber diese Pflicht war eine Hilfe,
eine Hilfe den eigenen Weg, das eigene Planen zu unterbrechen und sich auf Gottes Wege immer wieder einzulassen.
Es war ein Moment, die Weite und Höhe Gottes wahrzunehmen,
sein grandioses Spiel „Leben“ zu spüren und auf sich wirken zu lassen.
Jesus ist noch weiter runtergegangen mit der Zahl:
Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen.
Wie Jesaja hat Jesus dieses Hören auf Gott als liebevolle Einladung erlebt,
den eigenen Weg immer wieder zu ändern.
Bei Gott ist viel Vergebung.
Er ist nahe.
Seine Worte der Liebe sickern in unser Leben wie Regen
und lassen Samen aufgehen, die wir nicht für möglich gehalten hätten.
Gott ist wie ein Sämann, der an ungewöhnlichen Orten sät,
freigiebig ist und bleibt.
Er lässt Leben sprießen an ungewöhnlichen Orten, zu ungewöhnlichen Zeiten. Gott bewirkt viel, indem er sich immer wieder auf uns zubewegt.
Gottes Worte verändern unseren Blick und unsere Schritte,
bringen uns auf neue Gedanken.
Aber so wie Gott sich auf uns zubewegt, immer wieder und wirkt durch sein Wort, seinen Zuspruch,
so müssen auch wir uns bewegen,
auf ihn zu, sonst sehen wir das nicht,
nicht die Schönheit der Momente,
nicht die Möglichkeit, immer wieder unseren Kurs zu ändern.
Und das kann in Momenten wie auf der U-Bahnstation in Washington auch einmal bedeuten:
Stillzustehen und ein großartiges Geschenk wahrzunehmen und damit anzunehmen.

Die 7 Menschen, die stehengeblieben sind in Washington, wurden interviewt.
Einer ist ein Manager, der eigentlich kein Ohr für Klassik hat.
Aber er spürte, dass das etwas Ungewöhnliches war.
Er hatte noch 3 Minuten und hat sich die Zeit genommen.
Das, was er da hörte,
vermittelte ihm ein religiöses Gefühl von Frieden und schenkte ihm einen anderen Blick auf sein Leben.
Eine Frau, die zum Wachpersonal der U-Bahn gehört, ruft bei Straßenmusikern immer die Polizei. 
Sie ärgert sich jedes Mal, wenn wieder einer kommt.
Von Joshua Bell hatte sie nie gehört.
Hier sagt sie im Nachhinein widerstrebend:
„Er war ziemlich gut und da habe ich es nicht getan.
Zum ersten Mal.“
Eine einzige Frau, die ebenfalls stehenblieb, hat Joshua Bell erkannt.
Sie stand dort 10 Minuten und beobachtete die achtlos vorbeigehenden Leute und fragte sich:
In welcher Stadt lebe ich eigentlich?

Es geht mir nicht darum, Sie für klassische Musik zu erwärmen
oder aus Ihnen einen ordentlichen Kulturbürger zu machen.
Ich kann auch nicht mit Sicherheit sagen, ob ich selber stehen geblieben wäre.
Wie ich mich kenne, bin ich fast sicher, dass ich weitergegangen wäre.
Aber über die Frage der Washington Post nachzudenken,
lohnt sich auch für uns, wenn wir sie übertragen:
Hat das Wort Gottes überhaupt eine Chance, gehört zu werden,
wenn es nicht im Gottesdienst,
sondern an einem ungewöhnlichen Ort, zu einer ungewöhnlichen Zeit bei uns erklingt?
Wie erkennen wir eigentlich, dass Gott sich mitten in unserem Alltag in unser Herz spielen und unsere Gedanken verändern will?
Jesaja beschreibt diese Momente des Stillstehens und der Wegeänderung als Momente der Freude und des Friedens.
Ihr sollt mit Freude ausziehen und mit Frieden geleitet werden.
Reine Freude und Frieden sind Zeichen dafür,
wenn jemand zu sich findet,
weil er durch Gott auf seine manchmal verborgenen Quellen gestoßen wird.
Gott sinkt wie erfrischender Regen oder Schnee auf uns nieder
und es atmen auf Berge, Bäume und die Menschen dieser trockenen Region,
in der diese Rede Gottes stattgefunden hat.
Gott hat sie von der Dürre befreit, ihnen das Leben wiedergegeben.
Sie sind ganz auf seiner Seite, haben sich ihm ganz geöffnet.
Gesagt wird mit diesem Bild vom Regen und Schnee:
Durch das Reden Gottes kommt etwas zu den Menschen,
was sie aufschauen, aufatmen und antworten lässt.
Wenn Gott redet, dann merken wir das daran,
das alles womit wir geschaffen sind,
unsere ganze Person, aufatmen kann,
weil wir uns zeigen dürfen, wie wir sind,
weil wir zeigen können, was in uns steckt,
weil wir Wege beschreiten, die dem Frieden in dieser Welt die Türen öffnet.
Die übliche Skepsis schweigt, wenn uns klar wird,
dass Gott uns mit hoffnungsvollen Augen betrachtet und nicht aufhört, uns gut zuzureden.
Es braucht – das zeigt das Experiment der Washington Post –
es braucht allerdings Übung,
es braucht immer wieder Gelegenheiten, die offen genug sind, um dies zu erfahren.
Jesaja hat damals für sein Volk die Mauern heruntergefahren, die zwischen den Menschen und Gott standen,
indem er Gott in der gesamten Welt verortet hat.
In unseren Gottesdiensten, im Konfirmandenunterricht, im Chor,
 in  unseren sonstigen Begegnungen versuchen wir,
das zusammen zu üben, das Stillstehen und Hören.
Und wir sind als Kirche dazu da, auch anderen Menschen diese Gelegenheiten zu bieten.
Das bedeutet zum einen, die Mauern in unserer Gemeinde und den Veranstaltungen nicht zu hoch werden zu lassen,
damit Menschen eintreten und hören können.
Das bedeutet aber auch, Erfahrungen wie sie Joshua Bell gemacht hat,
nicht zu scheuen
und uns mitten im Alltag,
mitten unter häufig religiös unmusikalischen Menschen zu stellen  und uns nicht davon abbringen lassen unser Lied vom Leben zu singen.
Wie zum Beispiel am Montag auf dem Theodor-Heuss-Platz,
als sich ca. 200/300 Schülerinnen und Schüler mit anderen Menschen
für eine halbe Stunde ein Stillstehen und Innehalten zum Gedenken an den Holocaust erlaubt haben 
und eine Schülerin, eine Jugendliche der Gemeinde Neu-Westend, 
ein hebräisches Lied sang
und keiner redete,
sondern alle zuhörten. 
Das war ein Moment zum Aufatmen für viele, die noch unter den Folgen der NS-Zeit leiden.
Denn sie merken, sie sind nicht allein.
Das war ein Moment zum Aufatmen für Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten,
denn sie sehen den Ernst und die Betroffenheit bei vielen und den Willen Gewalt zu verhindern.
Das war ein Moment zum Aufatmen für die Stadt,...
oder vielmehr könnte es im nächsten Jahr werden,
wenn der Verkehr und das öffentliche Leben für eine Minute zum Stillstand kommt, wie schon seit Jahren geplant.

Ein Christ, sagte der Theologe Günter Bornkamm einmal,
ist ein Mensch, in dessen Nähe es leichter ist, an Gott zu glauben.
Ich glaube, Menschen erwarten von uns viel,
viel mehr als uns manchmal bewusst ist.
Sie erwarten von uns den Mut, ungewöhnliche Wege zu gehen.
Sie erwarten die Stärke, den Schmerz und die Verzweiflung auszuhalten.
Aber häufig erwarten sie von uns nicht mehr überschwängliche Freude und Hilfe, den Frieden zu leben.
Da erscheinen wir zu trocken oder zu harmlos. 
Vielleicht brauchen auch wir wieder mehr Momente des Stillstehens und müssen das einfach wieder öfter üben oder brauchen immer wieder andere Wege, die mehr Freude aufkommen lassen.
Wie dem auch sei.
Eines können wir uns von Jesaja gesagt sein lassen:
Gut, dass es Gott ist, der es immer wieder regnen lassen wird.
Gut, dass wir es nicht selber regnen lassen müssen,
sondern nur hören und folgen.
Gut, dass das viel öfter als wir denken,
genauso einfach oder schwer ist,
wie an einem Montag Morgen in einem U-Bahneingang stehenzubleiben
und Musik zu hören, die uns geschenkt wird,
und Gott sagen zu hören: Jetzt sing dein Lied.
Amen