Samstag, 19. September 2020

Gen 2, Sorglos im Paradies, 15. Trinitatis 2020

 I. Anfang.

Anfang.
Zeitlose Zeit.

Alles ist gut,
Gott und der Mensch vereint. 
Wir hören aus dem 2. Buch Mose die Geschichte vom sorglosen Beginn der Welt. 

Lesung: Gen 2 
Es war zu der Zeit, da Gott, der Herr, Erde und Himmel machte. Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht aufgespros­sen. Denn Gott hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte das ganze Land. 
Da bildete Gott Adam, das Menschenwesen aus Erde vom Acker und blies in seine Nase Lebensatem. Und so ward der Mensch ein atmendes Wesen.

Und Gott pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte das Menschen­wesen hinein, das er geformt hatte. Und Gott ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.

Und Gott nahm das Menschenwe­sen und setzte es in den Garten Eden, dass es ihn bebaute und bewahrte. 
Und Gott sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, so etwas wie ein Gegenüber. Und Gott machte aus Ackererde alle Tiere auf dem Felde und alle Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen... Aber für das Menschenwe­sen fand sich keine Hilfe, die so etwas wie ein Gegenüber wäre. 
Da ließ Gott einen tiefen Schlaf fallen auf das Menschenwesen, und es schlief ein. 
Und Gott nahm eine von seinen Seiten und schloss die Stelle mit Fleisch. 
Und Gott formte eine Frau aus der Seite, die er von dem Menschenwesen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch als Mann: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; die soll Ischa, Frau, genannt werden, denn vom Isch, vom Mann ist sie genom­men. Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und sich mit seiner Frau verbinden, und sie werden ein Fleisch sein. Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.

Musik: Blue River, gespielt von Alexandre Tharaud (ca. 1 Minute) 
(https://www.youtube.com/watch?v=GQlxCXl_qz0)

 
II. Sorglos im Paradies
Der erste tiefe Atemzug. 

Was Erde war, beginnt zu leben durch Gottes Hauch,

eine Mischung von Sauerstoff und Willenskraft und natürlich Liebe, aus der alles Leben entsteht. 

Was Erde war wird ein Wesen.
Lungen füllen sich.

Farbe kommt in die Wangen,

Bewegung in die Glieder. 

Ein lebendiges Wesen, von Gott geknetet aus Erde.
Steht aufrecht.

Kein Gras, kein Tier, keine Landschaft. 
Unwirtliche Einöde. 
Nur ein Ich zwischen Himmel und Erde.
Umhüllt von der Gegenwart Gottes.

Keine Fragen.
Keine Sorgen.
Siehe, der himmlische Vater ernährt dich.

Setzt dich in einen Garten, der sich plötzlich auftut da oben, 
wo Himmel und Erde sich berühren, 
sich ausbreitet vor deinen staunenden Augen,

Eden, Wonne, nennt Gott ihn.
Ein Traum:
Hell strömendes Wasser, 

sattes Grün in allen Schattierungen,
leuchtende Farben von Blumen und Früchten, die reif von Bäumen hängen.
Einfach zugreifen, 
nicht suchen, nicht finden müssen.

Und Gott bleibt, wandelt mit dir im Garten, 
zwischen Himmel und Erde. 
Keine Sorge, keine Sorge. 
Keine?
Gott sorgt sich.
Hat noch zwei Bäume gepflanzt. 
Warum?

Wer weiß...
Hat einen Weg gelegt aus dem Garten der Unschuld hinaus,

hinunter ins Wissen von Gut und Böse,
von Schuld und Unschuld,

hinein in eine Welt mit Licht und mit Dunkelheit,

Leben und Tod.
Doch noch bist du weit oberhalb,
noch liegt ein Schleier über den Bäumen,
noch schützt Gott dich vor diesem Sehen und der Sorge, die es bedeutet,

vor Zukunft und Vergangenheit,
vor nüchternen Tälern,
lässt dich im Jetzt einfach ein und ausatmen.
So wandelst du durch den Garten, in dem Gott dich halten will.
Er dehnt den Raum zwischen Himmel und Erde, 
für dich, 
schenkt dir Freiheit und Verantwortung,

gibt dir eine Aufgabe: 
Bebauen und bewahren sollst du den Garten und was darin lebt.
Sorgen, ja, aber nur was dir leicht von der Hand geht. 
Hast Leben, hast Willenskraft, Phantasie und genug Liebe dafür.
Doch genau das lässt dich allmählich über dich hinausdenken.

Du merkst, das reicht nicht, dieses Wandeln in Gottes Nähe,

Du willst teilen, dich mitteilen.

Gott ist zum Greifen nahe und doch nicht von deiner Art.

Gott merkt das, sieht es an der Leere in deinen Augen in manchen Momenten

und geht noch einmal ans Werk,
greift in die Erde,

stellt dir Tiere zur Seite, das reicht nicht.

Lässt deine Atemzüge tiefer und tiefer werden, 
dich hinein in den Schlaf gleiten,

teilt, 
formt den Menschen als Gegenüber, einen Mann, eine Frau. 
Ihr schaut euch an und die Welt um euch gleitet weg, auch Gott.
Ihr seid zu zweit, das reicht. 
Gott bleibt dennoch und freut sich an eurer Liebe.
Ihr spürt ihn, wenn ihr gemeinsam durch den Garten wandert,

er schenkt euch die Luft zum Atmen, 
alles, was ihr braucht, 
keine Sorge, keine Sorge, 

Schwebend zwischen Himmel und Erde.
Geben und Nehmen im Einklang. 

Zu zweit sein.
Wie schön,

wenn sich dein Wort an das des anderen hängt und Farben entstehen,

wenn bebauen und bewahren gemeinsam gelingt,
mühelos, 
weil zwei Hand in Hand arbeiten.

Wonne, Paradies, fragloses Glück.
Was braucht ihr mehr als Liebe? 


 Musik: All you need is love (Beatles) Für ca. 1,5 Minuten.

III. Ganz weit oben –  Sehen wie im Paradies 
Als Jesus aber die vielen Menschen sieht, die nachdrängen
mit all ihrem Leid und ihren Fragen,
ihrer Sorge um das Jetzt und die Zukunft, 
mit den Narben, die Unrecht und Gewalt in ihren Seelen hinterlassen,

schon bei ihren Kindern,
da geht er auf einen Berg.
Heraus aus der Menge. 
Bis an die Grenze von Himmel und Erde, 

da zieht das Dunkel nicht so sehr, 
da werden die Gedanken klarer,

Leben wagt sich vor, in leuchtenden Farben.
Und er setzt sich, und seine Jünger treten zu ihm.
Sie haben den Mut, zu sehen,  was Gott einst gedacht hat für diese Erde.
Und Jesus tut seinen Mund auf, lehrt sie, 
spricht zu ihnen. 
Lange. 

Sie hören ihm zu.

Sehnen sich, 
frei zu sein von mühsamen Wegen durch das Dickicht von Recht und Unrecht, 
ganz ohne Sorge einfach dem Guten folgen,
die Samen ihrer Phantasie und Liebe und Kraft im Namen Gottes frei austreuen wie der Sämann, 
der sich nicht kümmert, was wächst und was verdorrt. 
gemeinsam bebauen und bewahren,
mühelos,
weil sie Hand in Hand arbeiten.

Welche Wonne wäre das, was für ein Paradies!

 

Jesus hebt ihren Blick. 
Der erste Schritt. 
Schaut hoch, schaut um euch.
Lasst euren Blick nicht gefangen nehmen: Ihr seid frei,

Gottes Geschöpfe!

In euch fließt der Atem Gottes, 
er küsst euch wach mit seinem Lebenshauch, 
jeden Morgen wie einst in Eden.

Er wacht über euch, wenn ihr nachts in den Schutz des Schlafes taucht. 

Sorgt euch nicht, 
die Vögel fliegen und bekommen Nahrung, 
die Lilien wachsen und blühen,

alles Geschöpfe Gottes aus derselben Erde,

vom selben Atem Gottes wachgeküsst und am Leben erhalten
seit Anbeginn der Schöpfung.
Schaut um euch auf all das Leben. 

Ohne Sorge. Seid ohne Sorge.
Sie atmen auf. Schauen mit neuen Augen um sich.
Frei von engen Grenzen.
Frei von Angst.
Jesus hat recht: Gott ist da.
Frei fließt ihr Atem.
Jeder Zug ein Geschenk Gottes.

Einen Moment lang scheint alles möglich;
da oben zwischen Himmel und Erde.

Doch dann wieder Jesu Stimme, die mahnt: 

Nur um das Reich Gottes sorgt euch und um seine Gerechtigkeit. 

Und die Welt ist wieder da.

Stille


IV. Sorgen warten in den Tälern
Es klappt nicht,

uns einzureden, dass wir ohne Sorge sein können.
Wir wissen es besser. 
Wir wissen, dass wir für Momente aussteigen können aus der Welt,

meditieren, sanfte Musik hören, joggen,

einen Ausflug aufs Land unternehmen, 
bei dem unsere Augen sich erholen dürfen von dem Blick auf alles, was uns Sorgen macht.
Aber es holt uns wieder ein, beim ersten Schritt in die Täler.
Und wir sollen uns ja Sorgen machen! 
Umeinander.

Denn wir alle sind Geschöpfe Gottes, 
geschaffen als Gegenüber, das sich umeinander kümmert,
nur zu zweit denkbar,
beschenkt mit genügend Phantasie und Willenskraft und vor allem Liebe
um Leben zu gestalten und zu erhalten, 
zu bebauen und zu bewahren. 

Wir sehen hin auf die Spuren der Menschen.
Schauen auf Männer und Frauen und Kinder an Straßenrändern, 
die die Welt nicht mehr verstehen, 
eingesperrt auf einer griechischen Insel.
Warum nicht genügend Wasser und Nahrung, 
warum kein Schlafplatz, der seinen Namen verdient, 
warum, warum keine Freiheit?!?
Sie haben soviel dafür gewagt. 
Sind sie es nicht wert? 
Weniger wert als wir etwa? 
Darf man überhaupt so über Menschen denken, reden,
einander einsperren?
Je weiter wir uns entfernen von den Tälern der Realpolitik,
aufsteigen aus dem Dickicht besorgter Meinungen, die eigentlich nur Ihres im Blick haben,

je höher wir steigen auf den Berg, der uns den freien Blick ermöglicht,

desto unverständlicher wird es,

desto weniger kommen wir an diesen Fragen vorbei,
desto klarer  hören wir unseren Auftrag:

Nur um das Reich Gottes sorgt euch und um seine Gerechtigkeit.
Oder besser: 
Nurdarum müsst ihr euch sorgen, sonst ist alles da, was ihr zum Leben braucht. 
Das ist die große Freiheit, von der die Geschichte vom Anfang erzählt:
Wir stehen auf festem Boden,
eingehüllt in Gottes Gegenwart und seiner Sorge um uns,
hineingesetzt in den Garten der Welt, den wir genießen und gestalten dürfen und können. 
Auch jetzt noch. Es ist nicht zu spät.
Und es sind nicht nur Adam und Eva,
es sind wir alle, in denen der Lebensatem Gottes fließt,

es ist jede einzelne von uns, ob in Europa, ob in Afrika, ob in Asien, 
der und die den Auftrag erhalten hat zu bebauen und bewahren.
Welche Schande, welcher Verlust, 
dass so viele unter uns durch Hunger und Gewalt gehindert werden, ihr Bestes zu geben,

ihre Phantasie, ihre jeweils ganz besondere Kraft, ihre Liebe einzusetzen
um frei aus der Fülle der Erde heraus Leben zu gestalten.
Hebt den Blick, sagt Jesus, schaut auf von der Sorge um euch selbst,
die ist sinnlos. 
Euer Leben ist euer Leben, 
so wie es euch von Gott geschenkt wurde,
daran könnt ihr nichts ändern.
Fragt nicht weiter, 
ihr seid eben groß oder klein, 

stark oder nicht so stark,
musikalisch oder eben nicht,

still oder lebhaft, 
klug oder nicht so klug. 
Na und? 
Wie die Vögel, wie die Lilien, wie die ersten Menschen im Paradies

habt ihr, haben alle das Recht und die Pflicht zu leben,
die Freiheit geschenkt bekommen,

im Garten der Welt zu wandeln,
ohne Sorge zu kurz zu kommen,

mit Gott ganz nah an eurer Seite.

Jeder einzelne hat eine Stimme, 
die frei zwischen Himmel und Erde klingen darf,
singen darf wie Gabriella, jahrelang von ihrem Mann misshandelt,
in den Film „Wie im Himmel“, 

mutig singen darf davon, dass  ihr Leben ihr gehört,
sie ihrer Sehnsucht folgen darf, 
voller Vertrauen, dass ihr Weg sie in den Himmel führt,

von dem sie immer nur ein kleines Stück sieht. 
Hören wir in ihrem Wunsch den Wunsch eines jedes Menschen:
Ich will spüren, dass ich lebe
,
glücklich sein
dass ich bin, wie ich bin
Stark und frei

Schaut: Ich bin hier.


Musik: Gabriellas Song aus dem Film „Wie im Himmel
https://www.youtube.com/watch?v=2LVxuzIHgjg

 

V. Ohne Sorge sorgen

Gott dehnt den Raum zwischen Himmel und Erde.
Für mich. Für dich. 
Ja, es gibt Grenzen.
Es gibt Angst.
Es gibt Not in dieser Welt.
Und es gibt Gott in dieser Welt,
der jedem von uns den Atem schenkt,

uns aufatmen und aufschauen lässt, immer wieder,

uns befreit, dass wir einander nahekommen, 
ganz nah, ohne Sorge.

Gott ist da. 

Alles ist möglich.

Amen.




 

Samstag, 3. August 2019

Joh 6, 30- 35 Predigt zum 7. Sonntag nach Trinitatis 2019

Joh 6, 30- 35 
I. Es geht so schnell.
Es geht so schnell wieder weg.
Freie Urlaubszeit.... Vorsätze, 
Nähe zwischen zweien, die sonst leicht untergeht im Alltag.
Die Welt wird weit in den Bergen, am Meer,
das Herz darf sich einige Träume zurückholen.
Aber: Es geht so schnell wieder weg.
Ich denke, das kennen wir alle.
In den Zeiten der Jugend zum Beispiel,
als die Welt unbedingt verändert werden musste,
manchmal ein Rausch der Hoffnung, der Vision und auch der Wut und der Kraft,
die uns auf die Straßen zog zu Tausenden und Hunderttausenden,
laufen für den Frieden, 
Häuser, die doch für Menschen gemacht wurden und nicht für Miethaie, 
ein Wald, der nicht sterben sollte,
Festivals, Konzerte, die alle mitrissen und vereinten, für Stunden jedenfalls, 
Don’t stop me now,
das We shall overcome von Joan Baez in der Deutschlandhalle hält sich allerdings ein Leben lang,
die Nächte, in denen wir uns die Köpfe heiß redeten,
und dazu die Liebe, die noch nicht alltagstauglich sein musste,
ein Duft im Leben wie warmes Brot, gerade aus dem Ofen gezogen,
Wärme von innen und außen,
Hunger nach Leben.
Und dann, 
langsam,
ausnüchtern im Alltag der Erwachsenen.
Die Welt zieht sich zusammen auf ein machbares Maß.
Du stößt dich hart an den Kanten von Grenzen, die sich nicht so einfach verrücken lassen.
Zufrieden sein wird ein Ziel, an dem die leuchtenden Farben allmählich verblassen.
Und was da war an Visionen, muss sich bewähren. 
Das war und ist nicht leicht.

II. Es geht so schnell.
Es geht so schnell wieder weg.
Die Menschen am See Genezareth wachen auf am Morgen.
Sie hatten dort gelagert über Nacht. 
Sie haben gegessen und sind satt geworden. 
Richtig satt.
Alle.
Für Stunden vereint,
Sklaven und Freie, Männer und Frauen und die Kinder dazu.
Eine unglaubliche Erfahrung: Wir sind viele. Tausende.
Und noch mehr war da.
Sie sind gekommen, wie Schafe, die keinen Hirten haben. (Mk 6)
Jesus jammert es bei ihrem Anblick.
Er sieht in ernste Augen, die sich abgefunden haben 
mit Armut und Unrecht, 
mit dem Hunger und dass ihre Kinder nicht alle groß werden,
mit den demütigenden Grenzen der Römern, ausgebeutet zu werden. 
Sie sind hungrig und durstig, 
aber auch ihre Seele verschmachtet. (Ps 107)
Jesus sieht, da ist noch etwas, das hat sich gehalten,
das hat sie herausgetrieben aus den Städten und Dörfern.
Ein Rest von Kraft und Phantasie,
genährt durch die Geschichten eines freien Volkes,
ein Volk, das Wüsten durchquerte um das Leben der Freien zu führen,
behütet von ihrem Gott,
zu dem sie
 riefen in ihrer Not,
dass er sättigt die durstige Seele
und die Hungrigen füllt mit Gutem. (Ps 107)
Und sie erhalten Himmelsbrot:
Worte, die in Herzen brennen,
den Himmel weit werden lassen und ihnen Würde geben.
One moment in life, herausgehoben, befreit,
Freedom, Peace, love and understanding,
leuchtend, in Farben, die sie noch nie gesehen haben:
Woodstock in Galiläa.
Brote und Worte von Hand zu Hand, von Mund zu Mund,
geteilt, und sich vermehrend, dass es für alle Mägen und Herzen reicht.
Ein Duft zieht durch ihre Seelen: warmes Brot und freier Wüstenwind.

III. Doch jetzt? 
Es ist Morgen und sie sind aus diesem Traum erwacht. 
Sie schauen um sich.
Jesus ist weg. 
Panik.
Alleine, das wissen sie genau, alleine können sie das nicht, 
nicht ihre große Gemeinschaft bewahren,
nicht die neue Hoffnung in ihrem Herzen.
Das geht so schnell wieder weg. 
Die Grenzen sind wieder da,
das Vertrauen schwindet.
Und als sie Jesus endlich finden, atmen sie auf.
Und fragen:

„Was tust du für ein Zeichen, auf dass wir sehen und dir glauben? Was wirkst du?
Unsre Väter haben Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben steht (Psalm 78,24): »Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen.«
Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel.
Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben.
Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot.
Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ (Joh 6, 30-35)

IV. 
Nie wieder Hunger. Nie wieder Durst.
Nie wieder leerer Magen, nie wieder brennende Kehle, 
und auch: nie wieder leere Seele, nie wieder verzagtes Herz. 
Brot vom Himmel, das der Welt das Leben gibt,
das nicht weggeht, das bleibt.

5 Brote und 2 Fische, für die Menschen damals ganz klar:
die 5 Bücher Mose und Propheten und die Weisheitsschriften.
Worte, die nähren, duften wie warmes Brot.
Jesus und seine Jünger, die dieses Brot verteilen und ihnen öffnen,
verbinden mit den Träumen und dem Hunger ihrer Seelen. 
Es wird auch gegessen worden sein, wie immer, wenn Jesus mit anderen zusammensaß. 
Satt wurden sie damals, in jeder Beziehung. 
Sie und noch viel mehr:
12 Körbe wurden noch gesammelt,
genug für die 12 Stämme Israels,
ab, genug für die ganze Welt.
Brot vom Himmel, das der Welt das Leben gibt, 
Körper und Seele ergreift
verändert, auf neue Wege zieht.
Gott, gib uns allzeit solches Brot. 

V. Es geht so schnell.
Es geht so schnell wieder weg.
Das Sattsein, das Zufriedensein. Das Freisein, das Behütetsein.
Da kommen Menschen an einem Bahnhof an,
erfüllt von Urlaubserlebnissen und erleben, wie ein Junge auf den Schienen stirbt, 
Trauer und Entsetzen. 
Und eine Mutter, die im Krankenhaus liegt, deren Welt in Scherben,
eine Welt, in der Gewalt jederzeit über uns hereinbrechen kann.
So schnell.
Und die Sonne dieses Sommers im Urlaub zum Genießen.
Und die Natur stöhnt über die Last, die wir ihr aufgeladen haben. 
Und die Menschen auf den Meeren, ein Kind, eine Frau, ein Mann, wie du, wie ich.
Und sie am Untergehen.
Brot vom Himmel, das der Welt Leben gibt, allezeit, 
ein brennender Wunsch von vielen,
Brot vom Himmel, für die, die hungrig sind. 
Nur wer Hunger hat, isst.
Nur wer Durst hat, trinkt.
Nur wer Leere und Schmerz im Herzen spürt, sehnt sich nach Fülle und Trost. 
Nur wer leidet an den Grenzen der Menschlichkeit, weiß es zu schätzen, weiß danach zu rufen.
Nach Lebensbrot.
Gott, gib uns allzeit solches Brot. 
Miteinander geteilt.
Genug für alle.
Lass mich fragen: Nicht nur: Wovon lebe ich, sondern auch: wofür lebe ich.
Hilf uns teilen und lieben.
Gott, gib uns allzeit solches Brot.
Mach uns Mut zu hungern und zu dürsten,
Lass uns auf die Wiese in Galiläa ziehen,
unter den Himmel deiner Güte,
uns nähren mit deinem Brot und Wort,
dass unser Herz warm werde und sich öffnet 
für alles Leid, für alles Glück, ausgebreitet auf unseren Wegen,
für alle Liebe, die darauf wartet geteilt zu werden,
um Körbe um Körbe zu füllen,
zwölf mal zwölf und noch viel mehr,
bis es für alle reicht.
Amen

Montag, 28. Januar 2019

Lk 1 Maria und Elisabeth 4. Advent 2018

Lk 1

Die Tür steht einen Spalt offen.
Wir schreiben das Jahr 1971.
Den 23. Dezember.
Morgen ist Heilig Abend.
In den Flur dringen leise Gerüche.
Die Tannenzweige duften.
Leichter Brandgeruch mischt sich darunter.
Mein Vater klebt die Kerzen am Weihnachtsbaum fest.
Leises Rascheln.
Kartons werden geöffnet.
Ich weiß, meine Eltern bauen gerade die ganze Herrlichkeit auf, die uns unsere Verwandten über die Jahre hinweg aus dem Erzgebirge geschickt haben.
Ich kenne jede Pyramide, jeden Schwippbogen, den Weihrauch rauchenden Bergmann, die Kurrende aus schwarzgewandeten Sängern. 
Morgen ist es soweit.
Ich stehe vor der Tür und lausche und rieche.
Und mache mir Sorgen.
Ob es dieses Mal auch wieder klappt mit der Weihnachtsfreude?
Nie war ich so konservativ wie als Kind an den Weihnachtstagen. 
Ich weiß natürlich, dass es an Weihnachten nicht um eine perfekte Inszenierung erzgebirgischer Kunst geht.
Gott hat kein deutsches Weihnachtszimmer, sondern einen Stall für die Geburt Jesu gewählt. 
Und die Familie bleibt da auch nicht unter sich, wie ich es mir wünsche.
Der Engel wird morgen arme Leute in den Stall schicken, die Welt in Bewegung bringen.
Aber ich freue mich jedes Jahr so sehr auf diesen besonderen Moment: 
Da öffnet sich die Tür des Weihnachtszimmers für mich und meine beiden Brüder.
Chorgesang von der leicht zerkratzten Platte.
Wir  treten ein in ein Meer von Kerzen,
hinein in die Wärme, in der sich die Pyramiden drehen.
Es duftet nach Tanne und Wachs und Keks und Mandarine
und unter weißen Tüchern wartet ein Paradies an Geschenken. 
Ein zeitloser Moment, eine andere Welt, voller Freude.
Morgen ist Heilig Abend. 

Die Tür steht einen Spalt offen.
Ich stehe davor und lausche und rieche.
Etwas kocht auf einem Ofen, würzig, leichter Brandgeruch nach Holz.
Eine Frauenstimme summt vor sich hin.
Eigentlich ist der 23. Dezember 2018.
Eigentlich müsste ich Vanillekipferl backen.
Meine Kinder habe ich mit meinen Weihnachtstraditionen angesteckt. Sie sollen ein  schönes Fest haben.
Ich weiß nicht genau, wie ich gerade heute vor dieses kleine Haus in Nazareth gekommen bin,
offensichtlich 2000 Jahre zurück versetzt.
Aber ich kann es nicht ändern und nehme es hin.
Gerade will ich an die Tür klopfen, 
da scheint etwas Helles, Schimmerndes durch den Türspalt und das Summen hält inne.
Ich höre Satzfetzen, etwas von Gnade und Gott und einem Kind, das geboren wird.
Ich höre einen überraschten Ruf: Wie das denn? 
Und sehe, wie diese helle Kraft die Tür bewegt, so als würde sich das Haus dehnen müssen, um ihr Raum zu verschaffen. Höre: Der Heilige Geist wird über dich kommen, die Kraft des Höchsten...
Und einige sachliche Anweisungen über Namensgebung und den Besuch bei einer Verwandten. 
Das Licht lässt nach und die Tür zieht sich wie von selber zu.
Sowas, denke ich und gehe zurück auf den Weg.
Ich will lieber nicht stören.
Doch dann höre ich die Tür aufgehen und drehe mich um.
Ein Mädchen, eine sehr junge Frau wirft leicht und schwungvoll die Tür hinter sich zu. 
Ich schaue in ein strahlendes, energisches Gesicht, 
ein Gesicht mit Augen, die weit in die Welt hinausschauen. 
Die junge Frau sieht mich, stutzt, lächelt und kommt auf mich zu.
Du bist nicht von hier? 
Nein, sage ich.
Gut, meint sie. Ich auch nicht, nicht mehr.
Wie jetzt, frage ich zurück?
„Ich bin Ebed adonaj, Gottes Knecht“.
„Magd meinst du wohl.“, sag ich.
„Meinetwegen“, gibt sie zurück.
„Durch mich springen alle Türen der Welt auf.“
„Moment“, sage ich, „mal langsam.“
Sie lächelt: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich.“ 
Und geht.
Ich sehe, sie hat ein Bündel dabei wie für eine Reise und laufe ihr nach.
Haust du ab?, frage ich.
So ist es, sagt sie gelassen. Kinder kriegen ohne Mann – das erledigt man am besten woanders. 
Ich verdränge selbstlos jeden Gedanken an meine Weihnachtsvorbereitung.
Darf ich mit?, frage ich, besorgt, dass sie sich vielleicht übernimmt.
Klar, sagt sie. Komm nur.
Und wir machen uns auf den Weg über die Berge.
Die Sonne brennt.
Wo gehen wir eigentlich hin?, frage ich, als der Weg kein Ende nehmen will.
Zu meiner Cousine Elisabeth. Sie bekommt auch ein Kind. Ihr erstes.
Ist sieverheiratet?
Natürlich, sagt sie. Schon lange. Mit Zacharias. Sie ist 70 Jahre.
70?!, frage ich erstaunt.
70!, antwortet sie so, dass ich keine Fragen mehr stelle und deutet auf ein kleines Haus am Rand des Dorfes, das vor uns liegt.
Und ich sehe die Tür einen Spalt offen stehen.
Ein Gesicht schaut vorsichtig heraus. 
So, als ob sich jemand Angst hat, sich der Welt zu zeigen. 
Sehe Frauen und einige Männer daran vorbeigehen.
Sie schauen zum Haus hinüber, voller Zweifel, mit einer Prise Spott. 
Wir kommen näher, und die junge Frau ruft: Elisabeth! 
Und mit einem Ruck öffnet sich die Tür.
Eine alte Frau, hochschwanger, fliegt über den Weg mit ausgebreiteten Armen.
Sie ruft mit einer Stimme, die alle Leute auf der Straße jäh bremst.
Maria!! Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes!
Sie bleibt außer Atem vor uns stehen, schaut Maria an, spricht: 
Und wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?
Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe.
Und sie nimmt Maria in den Arm und Maria sie. 
Ich gehe zur Seite.
Die beiden sind sich genug. 
Da löst sich Elisabeth aus der Umarmung.
Sie schaut auf die Leute, die die beiden anstarren, richtet sich auf, lacht ihnen ins Gesicht und deutet auf Maria: 
 Ja, selig ist, die da geglaubt hat! Denn es wird vollendet werden, was ihr gesagt ist. Von Gott.
Die Gesichter werden finster, wie Türen, die sich verschließen.
Zwei Frauen in einer prekären Situation,
die eine zu alt, um mit ihrem Mann anderes zu machen als Händchen zu halten vor dem Haus,
die andere offensichtlich ohne Mann und schamlos schwanger.
Und die wagen es hier, in Gottes Namen zu sprechen. 
Maria schaut auf die Leute.
Ich
sehe ihr Lächeln, 
die Stärke, die Kraft dieser jungen Frau.
Und das Helle, das in ihrem Haus die Türen bewegt hat, leuchtet aus ihren Augen:  
Meine Seele erhebt den Herrn, ruft sie,
und mein Geist freut sich,
freut sich Gottes, meines Heilandes;
denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Sie breitet die Arme aus: 
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Denn er hat große Dinge an mir getan,
der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
Mädchen Courage (Kurt Marti),denke ich,
sie wagt sich auf die Drehscheibe einer offenen Zukunft, 
weil Gott sie ansieht,
weil Gott durch sie und ihr Kind allen zeigt, was er will.
Ja, bei Gott ist kein Ding unmöglich
Und plötzlich ist es, als ob sie mich und alle Leute auf der Straße mit auf ihre Drehscheibe nimmt.
Unsere Augen weiten sich.
Die Welt wirbelt um uns herum.
Überall, sehe ich, springen Türen auf.
Der Plätzchenteig bleibt stehen.
Menschen strömen aus Mietshäusern und Villen,
aus Wolkenkratzern,
auch aus baufälligen Hütten in den Slums,
aus den Zelten an den Mauern und Grenzen der Welt.
Strahlend, lächelnd, mit offenen Gesichtern und ausgestreckten Händen kommen sie aufeinander zu, teilen Brot und Salz:
Willkommen in der Welt, in der Gott alle Riegel wegschiebt.
Bald ergreift alle der Wirbel, in den Gott die Welt versetzt.
Sie drehen sie sich miteinander, tanzen, singen.
Ich sehe eine alte Frau mit verdutztem Gesicht.
Seit Monaten hat sie ihre Wohnung im 3. Stock nicht verlassen.
Jetzt tragen sie zwei kräftige Jungen aus der Haustür, hinein in die lachende Menge.
Einen Moment noch krampfen sich ihre Hände panisch um den Griff  ihres Rollators.
Doch dann lächelt sie und lässt los.
Arm in Arm mit den jungen Männern dreht sie ihre Kreise im Takt der Musik. 
Marias Stimme klingt durch die Bilder: 
Und seine Barmherzigkeit währet für und für
bei denen, die ihn fürchten.
Er übt Gewalt mit seinem Arm
und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Ich sehe AFD Anhänger hinter den Buchstaben ihrer Partei herrennen.
Aber das A, das F, besonders das D entwischen im wirbelnden Wind ihren greifenden Händen.
Sie fliegen hoch zu den Wolken, ordnen sich neu, schreiben wie mit Zauberhand FAD – Für alle da.
Hilflos schauen die Parteianhänger hoch.
Die Menschen um sie herum lächeln. 
Sie werden denen das Gift nicht heimzahlen, das sie ausgestreut haben. 
Und wieder singt Maria, laut, immer lauter:
Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Nun weht der warme Wind auch durch eiserne Türen vor Regierungssitzen aller Länder.
Die Türen lassen sich erweichen und öffnen sich.
Und die sie verbergen, stolpern heraus, blinzeln verwirrt in das kreisende Leben vor ihren Augen.
Manche haben zu Recht ein unsicheres Lächeln auf den Lippen.
Sie haben andere wüst beherrscht. Jetzt sind sie ihnen ausgesetzt.
Das macht ihnen Angst.
Aber man lässt sie leben und ... links .... liegen. 
Platten mit süßem Couscous und Backlava und Vanillekipferln stehen plötzlich da.
Es schmeckt allen.
Und dann sehe ich das Wasser in den Flüssen und Seen, das allmählich seine Farbe ändert und rein wird.
Die Kinder, die jeden Freitag auf der ganzen Welt vor Parlamenten für die Umwelt demonstrieren, nach dem Vorbild des schwedischen Mädchens von Kattowitz, können aufhören, sich den Kopf der Erwachsenen zu zerbrechen.
Denn Schnee und Eis legen sich wieder sorgfältig zurecht auf den Polkappen.
Wälder breiten sich an den Orten aus, an die sie gehören,
Wiesen holen sich das verlorengegangene Grün des letzten Sommers, der letzten Dürrejahre zurück.
Und die Wüsten und Steppen  weichen aus an die Orte, die Gott für sie vorgesehen hat.
Eine Wolke von Vögeln steigt auf.
Sie singen mit unzähligen Stimmen in perfekter Harmonie.
Der Hammer, denke ich, wie die Welt sein könnte, wenn alle Türen aufgehen.
Der Wirbel der Bilder wird langsamer und dann stehe ich, stehen wir alle wieder auf der staubigen Dorfstraße irgendwo in Israel.
Maria atmet tief durch. 
Sie ist zu groß geworden, um sich wieder klein zu machen.
Und so singt sie in die wieder nüchtern werdenden Gesichter der Menschen hinein:
Gott gedenkt der Barmherzigkeit
und hilft seinem Diener Israel auf,
wie er geredet hat zu unsern Vätern,
Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.

Ach, sagt eine Frau.
Der Spott ist aus ihrem Gesicht geflossen und hat Platz gemacht hat für ein weiches Lächeln.
Ach, was für ein schönes Lied ist das. 
Aber, fügt sie seufzend hinzu:  es bleibt doch immer alles beim Alten. 
Ja, sagt Maria, es ist nur ein Lied,
aber mit einem Lied fang ich mal an. 
(Gundermann)
Gott singt sich eben in die Welt, durch meine Stimme.
Und durch eure, wenn ihr euch traut, seine Worte in den Mund zu nehmen.

Mit einem Lied die Türen der Welt öffnen, denke ich.
Nicht festhalten an Ängsten und Bräuchen, sondern sich dem Wirbel von Gottes guten Wünschen für unsere Welt überlassen,
einfach tun, was er will.
Vielleicht sollte ich noch einen Globus kaufen und ihn neben die Pyramiden stellen, überlege ich.
Doch da kommt Maria auf mich zu und verhindert jedes weitere Nachdenken.
Wir feiern ein Fest heute, auf dem Dorfplatz, sagt sie.
Komm doch auch.
Äh, ich müsste eigentlich..., beginne ich.
Aber dann lasse ich es sein.
Die Welt in Bewegung, Menschen, die Gottes gute Wünsche feiern, was will ich eigentlich mehr.
Meine Kinder sind im Prinzip gutmütig.
Sie werden verstehen, warum es dieses Jahr keine Vanillekipferl gibt.
 Und so folge ich ihr und den anderen. 

Morgen ist Heilig Abend.
Türen werden geöffnet, zu Weihnachtszimmern und Kirchen.
Menschen werden zusammenkommen und singen, Gottes Worte in den Mund nehmen:
Friede auf Erden bei allen Menschen, zu seinem Wohlgefallen.
Die helle Kraft Gottes möge in unsere Räume und Herzen kommen, alle Türen dieser Welt öffnen und uns durcheinander bringen.
Selbst mich.
Amen 



Ex 3 27.1. 2019 Predigt zum Holocaustgedenktag

Predigt zu Ex 3 und 27.1. Holocaustgedenktag
1. In den Dornen hängen 
Manchmal kommt er, 
der rettende Engel, Gottes Bote. 
Er kommt, wenn ich mich verfangen habe,
festhänge im Dornengestrüpp.
Alleine komme ich da nicht heraus.
Jede Bewegung schmerzt. 
Die Hände sind mir gebunden.
Vorsichtig, mit spitzen Fingern, löst er Ranke um Ranke.
Ich kann mich wieder rühren.
Spüre: Gott ist da und wo er ist, ist Raum zum Leben.
Er holt mich zurück aus dem Dunkel des Tunnels: 
Ich höre seine Stimme:
Es werde Licht! Und wieder gut. 
Allem zum Trotz.

2. Mose in den Dornen
Mose führt seine Schafe weiter und weiter. 
Er wagt sich über die üblichen Weidegründe hinaus.
In die Wüste und darüber hinaus bis an den Berg Horeb.
Grenzland, in dem Gott bewegt, was unbeweglich erscheint. 
Was will Mose dort?
Einmal hat er doch schon eine Grenze überschritten,
damals in Ägypten. 
Ein Hebräer wurde niedergeprügelt von der Peitsche des Aufsehers.
Da hat er zugeschlagen, mit einem Stein, 
das Dickicht des Unrechts gewaltsam heruntergerissen, gemordet.
Seither lebt er in Midian.
Er ist verheiratet, Schwiegersohn des reichen und weisen Priesters Jethro.
Mose hat gelernt, die Grenzen einzuhalten, nicht weiterzudenken als bis an den Rand seines Lebens. 
In diesem Leben hängt er fest.
Die Dornen, die sein Volk im Elend halten, hat er aus dem Blick verloren,
spürt keine Wut, keinen Zorn, auch kein Mitleid. 
Doch jetzt, im Grenzland, geschieht es: 
Ein Engel Gottes reißt ihm die Binde des Alltags von den Augen:
Ein Dornbusch, dieses jämmerliche Gestrüpp der Wüsten und Steppen, 
ein Dornbusch brennt vor seinen Augen und verbrennt nicht. 
Der Engel bereitet ihn vor: 
Wo Gott ist, da öffnen sich Grenzen.
Zieh die Schuhe aus und mache dich bereit.
Gott ruft Mose in die Verantwortung. 
Sagt „Ich bin da und sehe das Leid, in dem mein Volk feststeckt und sich nicht rühren kann, 
ich höre ihr Schreien.
Der Dornbusch zeigt ihr verfangenes und gequältes Leben, und ich bin mitten drin.“
Mose hat sie auf einmal wieder vor Augen, die Dornen, die ihn und sein Volk festhalten, 
die Tyrannei des Pharaos, der seine Macht erhalten will um jeden Preis und reich wird durch die Arbeit seiner Sklaven.
Mose denkt an sein Volk und dass es nicht nur Peitschen, sondern auch Fleischtöpfe gibt in Ägypten.
Ob sie da ein Versprechen von Milch und Honig im unbekannten, freien Land locken kann? 
Mose sieht in das Feuer. 
Hört Gottes Stimme: 
Du, geh! Führe sie da raus. 
Ich?, fragt Mose entsetzt, wer bin ich denn?
Aber es ist zu spät.
Mose hat aufgesehen und Gottes Blick geteilt.
Er hat keine Ahnung, wie er der Macht und Willkür des Pharaos trotzen soll, 
und wie Gott ihm da beistehen kann. 
Aber das, was ihn ins Grenzland getrieben hat, 
wohl so ein diffuses Gefühl von: „Das darf doch so nicht bleiben“, 
das kommt ihm zur Hilfe.
Und er macht sich auf den Weg. 
Der Engel Gottes schnürt sein Bündel und geht mit.
Er wird seine Arbeit gut machen, die Ägypter plagen und Wege öffnen durch die Wellen für Mose und die Seinen.
Die Tyrannei des Pharaos bleibt zwar bestehen, aber Gott hebt die Decke der Gewalt soweit an, dass die Hebräer herausschlüpfen können.
Am Ende wird sein Volk auf der anderen Seite des Schilfmeeres stehen, befreit aufatmen, jubelnd feiern.
In der neuen Freiheit werden sie lernen, was es heißt Mensch zu sein. 

3. In den Dornen von Auschwitz.
„Als ich durch das Tor ‚Arbeit macht frei‘ schritt, dachte ich an Dantes ‚Göttliche Komödie‘, die ich damals kurz vorher gelesen hatte – dort hat der Autor am Tor zur Hölle die Aufschrift angebracht
‚Lasst alle Hoffnung fahren, die, die ihr hier eintretet‘.“
So beschreibt Tadeusz Smreczyński das Gefühl, als er Ende Mai 1944 nach Auschwitz kommt.
Hilflos steht der Engel Gottes am Tor von Auschwitz.
Er möchte ein Feuer anzünden, das brennt und nicht verbrennt, 
er möchte alle Welt zum Hinsehen zwingen und zeigen:
Gott will die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. 
Doch das Streichholz fällt ihm aus der Hand und verlischt.
Ein Sturm weht ihm aus dem Tor entgegen.
Der verfängt sich in seinen Flügeln und treibt sie auseinander.
Er kann sie nicht mehr schließen und nicht bewegen. 
Schwere hält ihn auf dem Boden fest. 
Er muss zusehen, wie ein Trümmerhaufen zerstörten Lebens vor ihm zum Himmel wächst. 
Nichts kann ihn aufhalten (nach Walter Benjamin).

Der Engel seufzt tief auf.
Dann geht er durch das Tor hinter den anderen her, die dort hineingetrieben werden.
Er bleibt bei ihnen, steht mit ihnen auf dem Appellplatz,
schreit und weint mit ihnen in den Gaskammern, 
wird zu Asche Millionenmal.
Denkt an Ägypten und seinen Kampf mit dem Pharao.
Und sieht hier nichts und niemanden, wo er ansetzen könnte, 
nichts, wo Gottes Dasein Wellen schlägt.
Er sieht nur diese Maschinerie des Grauens.
Die wälzt sich vorwärts, 
nur ihr Ziel vor Augen auszumerzen, 
was nicht in den starren, engen Körper des deutschen Volkes gehört, 
eine Bewegung, die kein menschliches Gesetz, kein Erbarmen kennt und zulässt. 
So sind sie erzogen worden in den letzten Jahren: flink wie die Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. 
Jeder, der ausschert aus dem großen Plan, kommt unter diese Walze.
Der Engel sieht Menschen, die diese Maschinerie bedienen, 
unbeeindruckt und grausam tun sie das, was sie für ihre Pflicht halten. 
Drohungen, Apelle an ihr Mitgefühl gleiten an ihnen ab. 
Und der Engel sieht die Menschen, die unter dieser Maschinerie des totalen Bösen leiden und sterben.
„Es wurde nur noch geschrien und geschlagen, berichtet Henri, der das Grauen überlebte. 
„Wir waren keine Menschen mehr, unsere Leben hatten keinen Wert.
Und so wurden wir auch behandelt. 
Wie Stücke, nicht wie Menschen. 51055, das war meine Nummer“. 
Gott weiß, wie das ist, ohne Hoffnung zu leben von Tag zu Tag im Schlamm und Rauch von Auschwitz.
Und dass er nichts tun kann, außer seinen Engel zu denen zu schicken, die leiden.
Zu den wenigen Wundern, von denen berichtet wird, gehören die Tagebücher, die diese Zeit überlebten, wie das der holländischen Jüdin Etty Hiellsum. 
Sie wurde 1943 in Auschwitz ermordet.
Vorher schreibt sie:
„Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du, Gott, uns nicht helfen kannst,
sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.« 
Der Rauch verbrannter Menschen steigt in den Himmel. 
Kein Dornbusch brennt. 
Nichts ist gut.

IV Befreiung aus den Dornen von Auschwitz
Am 27. Januar 1945 öffnet die Rote Armee die Tore von Auschwitz.
Zusammen mit den wenigen Überlebenden taumelt der Engel heraus wie aus einem bösen Traum. 
Kein Grund zum Feiern, was ihn betrifft. 
Und so geht es vielen.
Jacek Lech, lange Museumsführer in Auschwitz-Birkenau, spricht für viele Häftlinge damals:
"Ich bin alleine, jetzt habe ich alles verloren. 
Dann kommt langsam das Bewusstsein: Wie ist der Stand der Dinge jetzt? Also, ich lebe noch, ich weiß nicht, ob ich überlebt habe. 
Also noch keine große Pläne, einfach die kleinsten Dinge, 
also Essen, Waschen, Gesundheit. 
Das ist die Situation in den ersten Stunden nach der Befreiung, ja.“
Es ist ein Wunder, dass es einigen gelingt, zu feiern in den Wochen und Monaten nach der Befreiung. 
Sie haben etwas gerettet in sich, das es ihnen möglich macht zu reden wie Henri, der berichtet:
Ich bin eins von 6000 jüdischen Kindern unter 16 Jahren, die 1942 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. 
Als ich befreit wurde, war ich 18 Jahre alt. 
Viele fragen, ob die Zeit danach schwer war. 
Schwer? 
Es war Frühling, ich war 18 und wohnte in Paris. 
Es gab zu essen, es wimmelte nur so von schönen Mädchen, überall. 
Nein, schwer war das gar nicht. Das war wunderbar.“
Andere wie Zwi Steinitz fragten sich: 
»Was bedeutete mir eigentlich Freiheit, als ich als einziger Überlebender meiner Familie am 3. Mai 1945 plötzlich befreit wurde?“ 
Er wurde brutal aus seinem Heim vertrieben und verlor wenige Jahre danach seine Familie im Vernichtungslager Belzec. 
Er schlug sich allein durch das Krakauer Ghetto, das berüchtigte Arbeitslager Plaszow, durch Auschwitz, Buchenwald und Sachsenhausen und kam dann als Jugendlicher völlig mittellos in Israel an. 
»Nach außen war ich frei, doch innerlich, in meiner Seele, fühlte ich mich wirklich befreit?« 
Für viele bedeutete das Leben nach Auschwitz einen steten Kampf zwischen der Macht der Spuren, die die Shoa hinterlassen hatte und dem Versuch, das Leben wieder in ihre Hände zu nehmen.
Der italienische Schriftsteller Primo Levi sagte:
»Auschwitz hat in mir Spuren hinterlassen, meinen Lebenswillen jedoch nicht gebrochen, sondern eher gesteigert – was ich erlebt habe, gab meinem Leben einen Sinn, nämlich Zeugnis abzulegen.«
Lange Jahre gelang ihm dies. 
1987 hat er den Kampf aufgegeben und sich umgebracht.

Die Tore von Auschwitz, das Grauen von 12 Jahren totalitärer Herrschaft hatten sich geöffnet, für die Opfer und die Täter.
Beide auf unterschiedliche Weise verstümmelt, ihres Menschseins beraubt. 
Wie haben sie in einer Welt wieder zusammenleben können und leben heute auch zunehmend wieder in einem Land? 
Lange Jahre wohl so: Schweigend. 
Bloß nicht dran rühren. 
Die Menschen, die versuchten zu reden über die Schrecken, die sie erlebt hatten, vor allem die Opfer, stießen auf eine Mauer der Abwehr. 
Gut, dass der 27.1. endlich, nach über 70 Jahren, einen Ort in unserer Gottesdienstordnung hat.

5. Leben in Dornen. 
Zwei Geschichten stehen nebeneinander, die nicht zusammenzubringen sind. 
Wir feiern das Ende der Epiphaniaszeit. 
Hören die Geschichte von Mose, die sagt: 
Gott zeigt sich. 
Gott ist da, so wie er war, ist und wie er sein will.
Er entzündet Dornbüsche im Grenzland,
schneidet eine Schneise in das Gestrüpp des Unrechts 
und hilft uns die Welt zu verändern.
Und dann die Geschichte der Shoa, 
in der Gott schweigt und nicht anders denkbar ist als einer, der bei den Menschen bleibt und mitleidet,
ohnmächtig der Maschine Mensch gegenüber, die entschlossen war, zu töten, was sich ihr in den Weg stellte. 
Ein Gott, der klar handelt und uns fordert und ein hilfloser Gott der Tränen, der einfach nur still bei uns sitzt und unseren Schmerz teilt.
Ein Widerspruch, den ich nicht auflösen kann und will,
auch deshalb, weil es die Opfer dieser schrecklichen Zeit ein weiteres Mal an den Rand stellen würde. 
Gemeinsam aber ist diesen beiden Geschichten, dass sie ohne uns nicht denkbar sind.
Menschen sind es, die wie Mose den Raum der Freiheit nutzen, den Gott uns geschenkt hat und Menschen sind es, die diesen Raum wie viele Deutsche im III. Reich vernichten.
Menschen sind es, die als Gottes Hände und Münder das Unrecht benennen und mutig bekämpfen.
Menschen sind es, die schweigen und einer Zukunft ihren Lauf lassen, die das Leben aller gefährdet. 

Der Engel Gottes steht vor uns.
Er sagt: Das Grenzland steht euch immer noch offen, wenn ihr euch hineinwagt. 
Gott wartet dort auf euch und will mit euch die Welt bewegen. 
Immer noch und immer wieder.
Er schickt euch auf die Dächer der Welt, sein Recht zu verkünden, (Mt 10)
er schickt euch in die Finsternis des Schmerzes und der Trauer derer, die leiden. 
Er legt die Zukunft seiner Welt in eure Hände und an euer Herz, weil er ohne euch nicht handeln will und kann.
Er sagt uns: 
Ich bin und bleibe da, im Dornengestrüpp eures Lebens. 
Wenn ihr mich lasst, dann helfe ich euch, die Dornen zu lösen. 
Mein größter Wunsch und Wille für euch alle:
Es werde Licht!
Und wieder gut.
Allem zum Trotz.
Amen