Samstag, 22. Juli 2017

Dtn 7, 6-12 Von der Erwählung 6. Trinitatis 2017


Predigt Dtn 7, 6-12

„Du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, auserwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch Gott angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern – sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat.
Darum hat er euch hinausgeführt mit mächtiger Hand und hat euch erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.
So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen.
So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat.“

I. So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen.
Geschichte wirkt nach.
Familiengeschichte erst recht.
Ich weiß nicht, welche Geschichten Ihre Familien geprägt haben.
Aber wir können uns wohl nie ganz davon lösen.
Sie prägen uns, unser Leben, unsere Persönlichkeit.
Da ist eine Großmutter im Krieg tapfer geblieben und hat ihre Kinder auch ohne den gefallenen Mann großgezogen,
da widerstand ein Großvater mutig dem NS-Regime,
da hat eine Mutter einen Sohn vorgezogen und so den Neid der anderen geweckt,
da liebt eine Familie einen bestimmten Ort wie eine Hütte oder eine Landschaft,
da hat man uns als Kinder gezwungen, Spinat zu essen wegen des angeblichen Eisengehaltes und findet das Ergebnis dieser Bemühung dann in der ganzen Umgebung wieder.
All das gehört zu uns dazu, mit Guten wie im Bösen.
Wir wachsen mit diesen Geschichten auf.
Wir messen uns an ihnen, wir grenzen uns vielleicht auch ab.
Wir entwickeln unsere eigene Linie, aber lösen, ganz lösen wird sich kaum einer.
Die Geschichten halten sich.
Vielleicht nicht bis ins 1000e Glied, aber lange genug.

II. So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen.
„...es tut mir leid“, schreibt eine jüdische Mutter, die Schriftstellerin Lena Gorelli, ihrem Sohn Mischa, „es tut mir leid, dass ich Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude.“
„Das Judentum ist eine geschlossene Veranstaltung“, fährt sie fort, „die niemals endet. Einmal drin immer drin. ... Du kannst nicht gehen, nicht fliehen, dem jüdischen Schicksal nicht entrinnen.“
Lass dich taufen, werde Atheist: „Ein Jude wirst du bleiben.
Für die Juden sowieso; vielleicht einer, der vom Weg abgekommen ist, aber trotzdem einer von uns.
Für die Antisemiten bleibst du übrigens auch immer einer.“
Und, nachdem sie ihm alle merkwürdigen Dinge aufzählt, die Juden tun wie z.B. Wunschzettel in eine Steinmauer stecken, koscher essen, ständig miteinander zu streiten oder zu schreien „Warum gerade ich? Warum muss ich zum auserwählten Volk gehören? Auserwählt sein?“, schließt sie mit den Worten:
Eines noch: Lieber kleiner Mischa.
Du bist ein Jude. Etwas Besseres hättest du nicht werden können.“

III. Geschichte wirkt nach. Bis ins 1000e Glied.
Im Guten wie im Bösen.
Das hören wir in diesen Worten aus dem 5. Buch Mose.
Das Buch fasst die letzten Reden Moses an sein Volk zusammen.
Allerdings ist das kein O-Ton.
Zu der Zeit, als unser Predigttext verfasst wurde, im 6. Jh. vor Christus, ist von der zeitweilig ruhmreichen Geschichte des erwählten Volkes Israel nicht viel übrig geblieben.
Keiner hätte damals vorherzusagen gewagt, dass 2600 Jahre später immer noch Juden am Freitagabend beten würden:
„Du hast uns erwählt und uns von allen Völkern geheiligt und uns deinen heiligen Sabbat in Liebe und Gnade zum Erbe gegeben.“
Die Juden sitzen im Exil.
In Babylon.
Sie wurden nach der Zerschlagung des Staates Israel und Juda dorthin deportiert
Im Gepäck hatten sie die notwendigsten Dinge und ihre Geschichte.
Die Geschichte von der Erwählung.
Gott hat sie einst erwählt.
Nicht weil sie ruhmreich waren, philosophisch besonders begabt, religiös besonders versiert.
Das reibt ihnen der Schreiber deutlich unter die Nase:
„Wir waren und sind eines der kleinsten Völker, Weder Abraham, der Schafbesitzer mit dem Kinderwunsch, noch die Sklaven in Ägypten hatten sich besonders hervorgetan.
Die sind doch Generationen lang geprügelt und ausgebeutet worden.
Das sitzt fest.
Das wird nie vergessen werden.
An diese Geschichte der Sklaverei in Ägypten erinnern die Theologen im Exil.
Das Volk Israel fragt, wer sind wir eigentlich noch?
Ohne Jerusalem, ohne Tempel, ohne König?
Ihr seid ein Volk, eine Familie von Sklaven, erinnert man sie hier nüchtern,
ein winziges, unbedeutendes Volk.
Gott hat euch erwählt, aus keinem anderen Grund als aus Liebe, mit keinem anderen Ziel, als seine Barmherzigkeit sichtbar werden zu lassen in aller Welt.  
Das ist die Grundlage eurer Identität.
Nicht die Reichen und Erfolgreichen haben Gottes Herz gewonnen, sondern die Kleinen und Schwachen.
Vielleicht weil ein Volk der Sklaven und Verfolgten die Kraft der Peitschen kennt und sich bei Gewalt zurückhalten wird.
Sie wurden ausgebeutet und gequält und wissen Geboten zu schätzen, die dieses verbieten.
Sie werden solche Gebote weitertragen.
Unverfälscht.
Sie sind klein und unbedeutend und können sich nicht auf eigene Leistungen berufen, nur auf die bedingungslose Liebe Gottes.
Gott wählt das kleinste Volk.
Und er erscheint Mose nicht in der großen Eiche zu Mamre, sondern im Dornbusch, dem kleinsten und verachtetsten der Bäume dort.
Seine Gebote verkündet er nicht am Himalaya, was ein wirklich beeindruckendes setting gewesen wäre, sondern am Sinai, dem kleinsten der dortigen Berge.
Unser Gott nimmt immer den Weg von den Kleinen, Wenigen zu den Großen und Vielen.
Er beginnt beim Du, bei einem Volk, bei einem Menschen und hofft, dass wir daraus zum „Wir“ finden.
Das ist der Weg seiner Liebe.
Da geht er voran, den öffnet er.
In dieser Weise sollen die Juden zum Segen für die Völker werden, die Geschichte von Gottes Barmherzigkeit weiterschreiben zum Wohle aller.

Diese Familiengeschichte des jüdischen Volkes wirkt nach bis heute.
Seit 1000en von Jahren hat sie Menschen geprägt.
Sie macht sie unvergleichlich, manchmal auch merkwürdig für Außenstehende.
Aber sie wurden ausgewählt die Wahrheit zu lieben und zu leben.
Trotz ihrer jahrtausendelangen politischen Bedeutungslosigkeit haben sie es geschafft, die Gebote ins Bewusstsein der Welt zu bringen.
Nicht, dass sich die Welt immer daran halten würde.
Das tun im Übrigen auch die Juden nicht.
Aber sie haben die Gebote getreulich und wörtlich überliefert und ins Gedächtnis der Welt geschrieben.
Dass Rachemorde zu ächten sind,
dass Töten keine Konfliktlösung sein kann und es gilt die Spirale der Gewalt zu durchbrechen,
dass es einen Feiertag in der Woche gibt –
das sind alles Einsichten und Errungenschaften, die sich dank der Treue des jüdischen Volkes zu seinem Gott und zu seinen Geboten in der Welt,
auch in anderen Religionen herumgesprochen haben.

IV. Nun könnten wir beifällig nickend davor stehen bleiben und applaudieren.
Denn wir wissen ja bis in die jüngste Geschichte, dass schon etwas dazugehört, Jude zu sein und zu bleiben.
Doch ganz so leicht wird es uns nicht gemacht.
Denn wir gehören dazu.
Oder, um die Worte von Mischas Mutter abzuwandeln:
Es tut mir leid, dass ich Euch das nicht ersparen kann:
Ihr seid Christen.
Wir sind Christinnen und Christen.
Wir sind dabei, weil Gott um das Jahr 27 wieder einmal – in welchem liebevollen Überschwang auch immer – einen unscheinbaren Juden gerufen hat, jenen Jesus aus Nazareth.
Und so wie Gott damals Abraham versichert hat:
Du wirst ein Segen für die Welt sein,
so hat Gott durch Jesus auch uns gerufen: Ihr seid das Licht der Welt.
Jeder von euch.
Jede und jeder, der oder die sich rufen lässt.
Eigentlich tun wir nichts, um das zu verdienen.
Wir haben als Kirche politisch wenig zu sagen.
Einiges haben unsere Familienangehörigen in der Vergangenheit falsch verstanden und einen Eifer entwickelt, bei dem Gott sich nur die Augen zuhalten kann.
Auch unser Verhalten ist nicht immer ganz koscher. Wie die Juden sind auch wir Menschen.
Aber wir sind erwählt, dazugesteckt in den Ölbaum Israel, wie Paulus es ausdrückt.
Und damit hängen wir unwiderruflich in der ganzen Geschichte mit drin.
Einmal Jude, immer Jude.
Einmal getauft, immer getauft.
Nun kann man sich solche Reden anhören, und mit den Schultern zucken und sagen:
„Was geht mich meine Familie an, was geht mich meine Geschichte an?
Und getauft wurde ich ohnehin nur, weil Oma Else es so wollte.
Ich lebe anders, ich denke anders, ich will mit dem ganzen Verein nichts zu tun haben.
Weder mit dem jüdischen, noch mit dem christlichen.
Und mit den muslimischen, den noch weiter entfernten Verwandten, auch nicht.“
Kann man tun, tun auch viele.
Und so kommen wir mit der einfachen Behauptung „Geschichte wirkt nach bis ins 1000e Glied und wir hängen da drin, ob wir wollen oder nicht“ nicht unbedingt zum Ziel.
Jedenfalls nicht, wenn das etwas Positives für unser Leben austragen soll.

V. „Lieber kleiner Mischa“, sagt Lena Gorelli, „du bist ein Jude. Etwas Besseres hättest du nicht werden können.“
Liebe Gemeinde, ihr seid Christinnen und Christen, etwas Besseres hätte euch nie passieren können.
Warum nur?
Vielleicht, weil Gott uns hilft anders zu leben mit unseren Familiengeschichten, mit der Geschichte der Welt, mit unserer eigenen Geschichte, anders, als wir es gewöhnt sind.
Er ist mittendrin, ja, aber er hat einen anderen Umgang mit Geschichte als wir.
Unsere Liebe entzündet sich an dem, was sie sieht und erlebt.
Wir reagieren und orientieren uns an dem, was ist, und probieren Neues oder resignieren, je nachdem.
„Gottes Liebe“, sagt Martin Luther, „Gottes Liebe findet nicht vor, was für sie liebenswert ist, sondern sie erschafft es.“
Und das, füge ich hinzu, das nicht einmal in sieben Tagen am Beginn der Zeit, nicht einmal vor 5000 Jahren in Ägypten, sondern immer wieder, jeden Tag neu.
An jedem Tag bekommen wir Gottes Zuspruch zu hören:
Ihr seid erwählt. Du bist erwählt.
Von mir.
Mach was draus.
An jedem Tag öffnet uns Gott liebevoll die Tür unseres Lebens und fordert uns auf, unseren Weg mit freiem Herzen zu gehen.
Gottes Art mit der Geschichte, der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zu leben  ist Offenheit.
Und daher ist Erwählung nicht zu verwechseln mit Vorherbestimmung.
Nicht ein Mitgehangen, mitgefangen.
Erwählung als Ausdruck der Liebe ist ein schöpferischer Akt.
Gott wendet sich uns zu, jedem einzelnen und spricht ihn oder sie an.
„Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein, mein geliebtes Kind.
Erwählung ist etwas Aktives.
Gott redet uns an und wir hören, sehen und gestalten oder versuchen es zumindest.
Gott redet uns an. Du bist erlöst. Du bist getauft auf meinen Namen.
Und unsere Sache ist es zu antworten, im Bekenntnis unseres Glaubens, im Halten der Gebote, nüchtern gesagt.
Vertrauend, dass wir seine Erwählung wert sind und Barmherzigkeit, ein liebevolles, den anderen sehendes Miteinander das Konzept, das zu gestalten sich lohnt.

Erwählt zu werden ist eine der großen Sehnsüchte unserer Zeit.
Aus einer Fülle von Bewerbungen ausgewählt zu werden, Gewinner eines großen Preises zu sein, herausgehoben, besonders zu sein.
Das ist nicht unbedingt das Ziel Gottes, das er mit unserer Erwählung verbindet.
Gott beginnt wie gesagt immer mit den Kleinen, Unbedeutenden.
Er achtet strikt darauf, dass unsere Vorstellungen von Macht und Herrlichkeit und Ruhm nicht mit seiner Liebe vermischt werden.
Er kennt durchaus die schrecklichen Folgen unseres Handelns und verabscheut sie, weil er weiß wie schwer es uns fällt, aus der Kette der Gewalt auszubrechen.

VI. Geschichte wirkt nach. Bis ins 1000e Glied.
Was unsere Väter und Mütter geglaubt und gelebt haben, das ist unsere Familiengeschichte, in der wir leben.
Auch heute.
Ihre Taten und Worte sind in der Welt, wirken nach und stecken an.
Im Guten wie im Bösen.
Menschliche Antworten sind nie unfehlbar.
Es kann sein, dass Menschen aus diesem Text nur einen Satz hören:
Gott vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen.
Und sich berufen fühlen, diesen Hass mit Gewalt zu beantworten.
Sie vergessen dabei, dass Gott ein eifernder Gott ist, weil Liebe nie ohne Eifer, ohne Anteilnahme ist und Gott Machtwillen und Blutdurst nie gutheißen wird.
Sie vergessen, dass die Überschrift über Gottes Anteilnahme und Eifer die Barmherzigkeit ist, an die Gott sich laut unserem Text geschworen hat zu halten.
Sie vergessen, dass Gott Barmherzigkeit als Überschrift über das Leben der Welt sehen will.
Sie vergessen, dass Gott Macht und Gewalt nicht bestätigt, sondern unterläuft, am deutlichsten mit dem Wort Jesu vom Hinhalten der anderen Wange und Gewalt nicht seine, sondern die Spur der Menschen sind, die so schwer zu tilgen ist.
Geschichte wirkt nach. Bis ins 1000e Glied. Und wirkt weiter.
Gottes Geschichte ist nie abgeschlossen.
Auch heute hören wir in jedem Moment immer wieder neu Gottes Rede an uns:
Du bist erlöst. Du bist getauft. Du kannst leben, als Licht der Welt.
Gottes Geschichte ist immer offen nach vorne.
Und daher ist unsere Zukunft offen. Immer.
Trotz allem Ballast,
trotz aller schrecklichen Verfehlungen und falscher Antworten,
trotz verwüsteter, ausgetrockneter Länder mit hungernden Menschen,
auch trotz unserer manchmal einengenden Familiengeschichten,
trotz allem öffnet uns Gott immer wieder Wege,
genauso schwer vorstellbar, wie der Weg aus der Sklaverei,
vielleicht genauso langatmig wie der Weg durch die Wüste,
vielleicht genauso schmerzhaft wie der Weg Jesu.
Aber weil Gott ruft,
weil Gott mitgeht wie seit Generationen schon,
weil Gott seiner Liebe und Barmherzigkeit alles zutraut und in uns das Licht der Liebe immer wieder entzündet,
deshalb können wir diese Wege gehen, in der Wahrheit leben, die Wahrheit suchen und niemals aufgeben.
Du bist getauft.
Etwas Besseres hätte dir nicht passieren können.
Mach das Beste daraus.
Heute.
Amen.