Sonntag, 18. November 2018

Apk 2 Gedenken I. Weltkrieg, Volkstrauertag und Vorletzter Sonntag 2018

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt! 

Der Schmerz sargt uns ein

in einem Haus ohne Fenster. (Hilde Domin)
Etwas rollt auf uns zu. 
Wir merken, wir können nicht ausweichen.
Sie bedrängen uns,
mit Worten, verletzend, bösartig.
Gefängnis droht und Schlimmeres.
Wie kommen wir da durch, ohne uns selber und Gott untreu zu werden?
Der Himmel zieht zu. 
Dunkle Wolken drücken aufs Herz.
Die Hoffnung, Gott schafft bald Frieden auf Erden, 
hat die Christen in Smyrna, dem heutigen Izmir beflügelt. 
Jetzt schwindet sie dahin.
Das wird nicht gutgehen.
Der Kaiser Domitian fordert mehr als die Anerkennung seiner Macht.
Nennt mich Herr und Gott, sagt er. 
Dann schütze ich euch. 
Gliedert euch ein oder ihr sterbt. 
Gerade in Smyrna wird dieser Kult groß gefeiert.
Gladiatorenspiele brauchen neue Opfer. 
Auch in der jüdischen Gemeinde, bisher geschützt von der Religionsfreiheit, werden sie unruhig. 
Mehr Steuern, öffentliche Anbetung des Kaisers?
Einige erliegen der Versuchung und lenken ab.
Sie zeigen mit Fingern auf die Christen, von denen sich die jüdische Gemeinde ohnehin distanziert hat.
Sie lenken den Blick der staatlichen Behörden auf sie.
Es wird eng. 
Kein Geld um Beamte zu bestechen – 
Die Gemeinde ist arm.
Die Christen fragen sich: 
Laufen wir nicht in eine Sackgasse ohne Ausweg?
Leben wir eingesperrt in einem Haus ohne Fenster, das einer bald anzündet?
Werden wir den Schmerz ertragen oder 
unserem Glauben untreu werden an den Herrn, der den Himmel offen hält für alle? 
Da kommt ein Brief, einer der trösten und aufrichten möchte.
Von Johannes, ihrem Gemeindegründer.
Der lebt verbannt auf der Insel Patmos und schickt ihnen das Diktat Gottes, so jedenfalls sieht er es: 
Dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe:
"Das sagt der Erste und der Letzte,
der tot war, nun aber lebt:
Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut,
- du bist jedoch reich -,
und die bösen Gerüchte (über dich) von denen, die sich Juden nennen, aber keine sind.
Fürchte nichts von dem, was du erleiden musst.
Sieh, man wird einige von euch ins Gefängnis werfen,
so dass ihr auf die Probe gestellt und zehn Tage bedrückt werdet.
Sei getreu bis in den Tod,
so will ich dir die Krone des Lebens geben.
Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.
Wer diese Probe besteht,
wird vom zweiten Tod nichts mehr erleiden müssen.
Ganz anders ist die Stimmung auf den Straßen Berlins im August 1914.
Männer laufen in Reih und Glied,
das Gewehr über die Schulter gehängt, 
das Herz voll mit vaterländischem Jubel und Stolz.
Am Straßenrand winken ihnen 1000e von Menschen zu.
Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben,
rufen die Pfarrer aus den Kirchen.
Mit Gott in den Krieg für Kaiser, Volk und Vaterland, rufen sie zurück. 
Ihr kleines, alltägliches Ich, das kleine Kreise zieht, 
bläht sich auf im großen Wir des Deutschen Volkes.
Keiner will draußen bleiben. 
Kadavergehorsam im Deutschen Reich.
Gib dein Ich an der Garderobe ab. 
Werdet wie ein Mann, der geschlossen gegen den Feind zieht.
Doch dann zieht sich der Himmel zu. 
Dunkle Wolken drücken aufs Herz.
Es hagelt Kugeln und Granaten.
Die Welt rückt näher, reißt die Mauer herunter, die sie um sich herum gebaut haben. 
Das große Wir des Deutschen Volkes, 
das wie ein Mann ausgezogen ist, einem imaginären Feind zu trotzen, 
zersplittert in 1000e von Teilen.
Sie sterben, 
zerfetzt und verstümmelt, 
verseucht vom Gas.
Der Schmerz sargt sie ein

in einem Haus ohne Fenster,
in das keiner von denen blickt, die ihnen zugejubelt haben.
Auch nicht ihr Kaiser. 
Sie sterben.
Nicht wie ein Mann.
Auch nicht wie die Fliegen. 
Wie ein Mensch, dessen Würde in den Staub getreten wird.
Tausend mal ist es ein Mensch, der stirbt, ein Ich ausgelöscht.
Millionenmal ist es ein Mensch, der stirbt, ein Ich ausgelöscht.
Ein Wolfgang, ein Heinrich oder wie sie damals alle hießen. 
Und mit ihnen die Männer und Frauen und Kinder 
in den Ländern, die sie überfallen und terrorisiert haben. 
Als vor 100 Jahren am 11.11. 1919 der I. Weltkrieg endet, sind 15 bis 17 Millionen Menschen tot.
So etwas gab es bis dahin noch nie.

Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben. 
Was für eine Treue ist das? 
Und was für eine Krone? 
Die Christinnen und Christen in Smyrna atmen leichter nach diesem Brief. 
Da blickt einer unter die dicke Wolkendecke, 
die ihnen den Atem nimmt.
Er öffnet die Fenster ihres Hauses voll Schmerz und Angst und schaut hinein,
sieht die Bedrängnis, die Armut, die üble Rede und redet nicht drumherum. 
Sagt: Ja, es ist schlimm 
Ja, es wird eng. 
Ja, ihr werdet leiden. 
Aber nicht lange. Nicht für immer.
Kaiser Domitian mag sich aufführen, als ob er für immer und ewig die Macht in Händen hält und die Grenzen des Himmels und der Erde und des Lebens bestimmt.
Aber Gott ist der Herr über die Zeit und über die Welt und über alle Menschen.
Er setzt euch die Krone auf, wie allen seinen Ebenbildern,
des Krone des Lebens.
Sie glänzt nicht immer, 
sie hat Schrammen
und hier und da eine Beule 
und manchmal fühlt sie sich an, als wäre sie voller Dornen. 
Aber wer sich traut, diese Krone zu tragen und nicht einfach an der Garderobe abzulegen, dem öffnen sich die Augen.
Der sieht die Weite der Welt, 
sieht weit über die grünen Wälder und blauen Ozeane hinweg,
über bunte Dörfer und Städte, Länder und Kontinente,
sieht Menschen, nur Menschen, nicht Völker, 
wird sich der eigenen Kraft bewusst und betet: 
Dein Reich komme. 
Für alle, NUR so. 
Auch durch mich.
Die traut dem, der die andere Wange hinhielt und sieht auch in ihrem Feind ein Kind Gottes.
Der sieht Wege zum Leben, die über Mauern und Grenzen führen, die Menschen errichtet haben, und richtet sich auf und geht los.
Die glaubt Gott, wenn er sagt:  
In meinen Händen wird das, was sich für euch wie ewig anfühlt, zu 10 Tagen schrumpfen.
10 Tage werdet ihr auf die Probe gestellt, das haltet ihr aus. 
Was wie eine Katastrophe aussieht, ist eine Krise. 
Und eine Krise steht ihr durch. 
Bleibt treu. 
Bleibt fest mit beiden Beinen auf meiner Erde und lasst euch nicht umwerfen. 
Schaut in die Weite meiner Welt, 
auch wenn euch schwindelt, 
auch wenn andere versuchen, euch diesen Blick zu verbieten oder euch auslachen.
Vertraut mir und seid sicher:
Ich halte euch bis ans Ende eurer Zeit und darüber hinaus. 
Glaubt mir, ihr schafft das.“ 
Worte, die den Himmel anheben, den Blick frei machen. 
Ja, denken die Menschen in Smyrna, ja,
wir bleiben dabei, es lohnt sich.
Die Deutschen haben zwei Weltkriege gebraucht, bis ihnen klar wurde, 
dass es nicht die deutsche Würde ist, die es zu schützen gilt, 
sondern die Menschenwürde. 
Sie hatten sich eingerichtet in ihrer deutschen Seele, 
in einer menschenverachtenden Treue, die alles, was anders ist, mit Füßen tritt.
Sie haben es zugelassen, dass ihr eigenes Herz verseucht wurde mit Hass und Vorurteilen, 
die bis heute ein Eigenleben führen, 
gebrannt in Sprüche, die dem Hass Nahrung geben und vom Hass ernährt werden. 
Sie sind sogar ein zweites Mal einem Führer nachgerannt, 
der ihnen versprochen hat, dieses Haus wieder aufzubauen.
Wieder haben sie ihr Ich an der Garderobe abgegeben und sind aufgegangen im Volksganzen, 
blind für die Würde der anderen, 
blind für die Weite und Vielfalt von Gottes Welt und seinen Frieden,
blind für das Verderben, das sie über sich und 50 Mio Menschen gebracht haben. 
Die Kirche hat beide Male nicht aufgeschrien und das Recht auf Leben mit aller Kraft verteidigt. 
Von wenigen Ausnahmen abgesehen.
Das ist eine Schuld, die uns bis heute verfolgt und der wir uns immer wieder stellen müssen, 
voll Trauer, voll Scham, gerade am heutigen Tag. 
Und wir wissen:
Auch heute leben Menschen in Häusern aus Schmerz.
Häuser ohne Fenster, in die kaum einer hineinblickt,
sie sind einem Leid ausgeliefert, das sie erdrückt und jegliche Hoffnung nimmt. 
Auch heute sterben Menschen auf Schlachtfeldern, 
werden niedergemetzelt in Städten, in Schulen und Krankenhäusern,
werden abgeschnitten von den Schätzen der Erde, 
für alle gedacht, und verhungern jämmerlich. 
Und wieder ist es tausendmal ein Mensch, der stirbt, ein Ich ausgelöscht.
Millionenmal ist es ein Mensch, der stirbt, ein Ich ausgelöscht,
durch Krieg und Hunger und Umweltzerstörung. 
Auch heute schwingen sich Menschen als Herrn über Leben und Tod auf, 
blind für den weiten, liebevollen Blick Gottes auf alles, was lebt. 
Und es ist heute unsere Aufgabe als Christinnen und Christen, 
in Gottes Namen,
Türen zu bauen in die Mauern aus Worten, 
die gerade auch in unserem Land wieder Menschen ausgrenzen und diffamieren,
Türen zu bauen in die Mauern aus Beton und den Stacheldraht zu zerschneiden,
dass Menschen einander die Hände reichen und ihres teilen können,
die Mauern aus Kapital und Eigennutz und Angst abtragen helfen, die verhindern, dass diese Welt bewohnbar bleibt für alle. 
Als Ebenbilder hat Gott uns geschaffen. 
Ihm die Treue halten bedeutet, ganz ich zu sein, 
zu sehen, 
dass ich ganz aus Gottes Liebe lebe 
und dieses Band zwischen ihm und mir immer in der Hand halten werde, 
um meinetwillen und jedes anderen Menschen willen.
Jedem einzelnen von uns hat Gott die Krone des Lebens aufgesetzt.
Die Krone Gottes glänzt nicht immer, 
sie hat Schrammen
und hier und da eine Beule und manchmal fühlt sich sich an, als wäre sie voller Dornen. 
Trauen wir uns, in seinem Namen, diese Krone zu tragen.
Schauen wir ohne Angst in die Weite von Gottes Welt, über die grünen Wälder und blauen Ozeane hinweg,
über bunte Dörfer und Städte, Länder und Kontinente,
sehen wir Menschen, nur Menschen, nicht Völker,
bleiben uns und Gottes Willen treu und beten: 
Dein Reich komme. Für alle, nur so. 
Auch durch mich.
Und hören Gottes Stimme, die uns gleichzeitig mahnt und tröstet:
Bleibt treu und fest mit beiden Beinen auf meiner Erde.
Verhindert mit allen Kräften, dass aus einer Krise eine Katastrophe wird.
Schaut in die Weite meiner Welt, 
auch wenn euch schwindelt, 
auch wenn andere versuchen, euch diesen Blick zu verbieten oder euch auslachen.
Lacht ihnen entgegen, 
liebt, was das Zeug hält, 
sprecht die Wahrheit mit klaren Worten,
teilt aus mit vollen Händen.
Ich vertraue euch, ihr schafft das.
Und wenn Johannes, der Seher, Rosa Luxemburg gekannt hätte, 
eine der wenigen Stimmen, die sich gegen den Krieg erhob,
hätte er sie sicher zitiert:  
„Sieh, dass Du Mensch bleibst: 
Mensch sein ist vor allem die Hauptsache. 
Und das heißt: fest und klar und heiter sein, 
ja heiter trotz alledem und alledem, 
denn das Heulen ist ein Geschäft der Schwäche."
Amen.


Mittwoch, 28. März 2018

Karfreitag 2018 Mt 27


Ein Abgrund tut sich auf.
Menschen schreien: Kreuzige ihn!
Ein Abgrund der Gottesferne.
Menschen stecken fest in ihrem Hass.
Menschen hören auf ihren Machtwillen.
Verhören Jesus und liefern die Antworten gleich mit,
die ihn als Aufrührer ausliefern,
den Folterknechten, dem römischen Urteil:
Kreuzigt ihn!
Sie sind sich sicher:
Der verdient sein Leben nicht mehr,
dieser sanfte und aufreizend klare Mensch, der laut in die Welt gerufen hat:
Dein Reich komme!
Menschen übertreten ihre Grenzen.
Damals. Heute.
Sie richten sich ein in der Schlucht der Härte,
aus der keine Treppe mehr führt.
Kein Mitleid, kein Sinn für Gerechtigkeit ist mehr abrufbar.
In diesem Abgrund versinkt Jesus.
Stirbt schreiend.
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Stirbt schreiend vor körperlichem Schmerz.
Sie haben meine Hände und Füße durchgraben.
Ich kann alle meine Knochen zählen;
sie aber schauen zu und sehen auf mich herab.
Stirbt schreiend vor Verzweiflung.
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Ist dieser Abgrund dein letztes Wort, Gott?

Vielleicht ist es nicht sein letztes Wort,
aber Gott spricht an Karfreitag nur davon,
spricht von den unausweichlichen Folgen menschlicher Sünde,
spricht von menschlicher Härte,
die sich weit von dem Bild entfernt, nach dem er den Menschen erschafft.
Gott zeigt, welche Abgründe sich auftun,
wenn Menschen sich abwenden von der Stimme des Lebens,
und sich dadurch der Kälte des Todes ausliefern,
andere erschießen,
quälen, foltern,
verhungern
oder am Kreuz verrecken lassen
ohne Mitleid,
ohne Anteilnahme.
Damals. Heute.
Gott redet durch Jesus von den Abgründen dieser Welt.
Und weil Gott es ist, der davon redet,
werden sie sichtbar für alle Welt.
Niemand kann ausweichen.
Er will, dass wir zuhören, zusehen, hinsehen, wie er es tut.
Wo Abgründe sich auftun,
da geraten die Dinge durcheinander,
da kommt alles in Bewegung.
Das, was Menschen so oft nicht zeigen,
Anteilnahme, Erschütterung,
das zeigen im Matthäusevangelium die Natur und die Dinge.
Sie sind Gottes Stimme. Sie zeigen, was und wie er sieht.
Die Sonne verbirgt sich,
weigert sich, mit ihrer Wärme die Kälte dieses Augenblicks zu vertuschen.
Der Vorhang im Tempel kann nicht an sich halten,
es zerreißt ihn, von oben nach unten.
Nichts Heiliges, Verborgenes kann es geben in dem Moment,
in dem Menschen das Heiligste, das Leben eines Menschen, mit Füßen treten.
Das Heilige hängt am Kreuz,
und wer das Allerheiligste sehen will, muss nach Golgatha blicken.
Die Natur schüttelt sich.
Selbst die härtesten Felsen reißt es auseinander.
Die Heiligen hält es nicht in ihren Gräbern.
Sie wandern über den Hügel von Golgatha und
zeigen ihre Erschütterung:
Jesus ist tot, Gottes Stimme wurde erwürgt –
das darf doch nicht wahr sein.

Das ist für mich das einzig mögliche Evangelium an Karfreitag:
Dieser Satz: Das darf doch nicht wahr sein.
Dieser Satz weicht dem Skandal des Todes nicht aus.
Er nimmt den Tod bitter ernst.
Es ist der Satz, den Gott der Natur, den Dingen in den Mund legt
und darauf wartet, dass wir ihn in den Mund nehmen.
Das darf doch nicht wahr sein.
Dieser Satz: Das ist das Mindeste.
Das zerstörte Leben eines Menschen sehen, nicht vorbeisehen können,
nichts tun können, aber sagen, rufen, flüstern:
Das darf doch nicht wahr sein.
Das will Gott von uns hören.
Das spricht er selber in die Abgründe unseres Lebens hinein:
Nein, das darf nicht wahr sein.

Gott schaut in diese Abgründe, steigt mit hinunter.
Das versteht sogar ein abgebrühter Hauptmann,
der täglich die Schreie der Sterbenden am Kreuz im Ohr hat
und nicht so leicht zu erschüttern ist.
Aber Gott zeigt seine Erschütterung angesichts des Todes Jesu.
Für ihn gerät angesichts des Leidens eines Menschen die ganze Welt ins Wanken.
Daran kommt der Hauptmann nicht vorbei.
Er erkennt, dass tatsächlich Gott durch diesen Jesus redet,
und er findet keine besseren Worte dafür, als zu sagen:
Das war ja dann wohl doch Gottes Sohn.
Und seine Erschütterung ist zu merken.

Das darf doch nicht wahr sein.
Wer diesen Satz sagt,
der weiß zumindest:
Leben ist anders, muss anders sein.
Ein Mensch gehört nicht ans Kreuz,
sondern zu seinem Feigenbaum und Weinstock.
Die vielen Armen und die wenigen Reichen sind kein Naturgesetz,
auch wenn die Gesetze und Grenzen der Länder es so oft dabei belassen.
Das schreckliche Leiden in der Welt zeigt den tödlichen Abgrund,
in dem wir es uns oft behaglich oder resignierend eingerichtet haben.
Das darf doch nicht wahr sein,
ein Gebet, das Jesu Schrei am Kreuz aufnimmt, ernstnimmt und der Welt entgegenbetet.

Es gehört Mut dazu, sich an diesen Satz zu wagen,
denn er bewegt nicht nur Berge und tote Heilige,
sondern auch die, die ihn ausspricht:
Das darf doch nicht wahr sein.
Wenn ich mich an diesen Satz wage,
es wage, angesichts der Ungeheuerlichkeiten,
die Menschen bis heute ihren Geschwistern zumuten,
wage mein Herz zu öffnen,
dann tue ich das in der Hoffnung,
Gottes Stimme zu hören,
der mir recht gibt, wenn ich nur noch fassungslos den Kopf schütteln kann.
Dann spüre ich vielleicht auch in dieser Tiefe Gottes Hand,
und merke, dass diese Hand mich zieht, ohne schon zu sehen wohin.
Dann stimme ich ein in den 22. Psalm,
mische wie Jesus schreiende Klage mit dem Bekenntnis:
Gott hat nicht verachtet noch verschmäht
das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen;
und als er zu ihm schrie, hörte er's.

Das darf doch nicht wahr sein.
Hilft es, wenn wir diesen Satz aussprechen?
Kann er die Felsen von den Gräbern der Welt rollen?
Hilft er uns aufzustehen, gegen den Tod, gegen mitleidlose Gewalt und Unrecht?
Ich weiß es nicht.
Aber ich glaube, wenn wir uns der Ungeheuerlichkeit des Todes,
den Menschen anderen zumuten, wirklich aussetzen,
dann verlieren wir unsere Fassung angesichts des Leides.
Fassungslose Menschen kann Gott bewegen
und mitnehmen auf seinen Weg.

Das darf doch nicht wahr sein.
Die Erde bebt,
Felsen zerreißt es,
und den Vorhang im Tempel.
Abgründe tun sich auf.
Damals. Heute.
Das darf doch nicht wahr sein.
Gott spricht diesen Satz mit und
wird nicht aufhören vom Leben zu reden,
damit wir aufstehen
gegen den Tod und in die Welt rufen:
Dein Reich komme!
Amen