Sonntag, 16. November 2014

2 Kor 5, 1-10 Vorl. Sonnt. 2014 (Volkstrauertag, 9. November 1989)


Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Sehnsucht – eine Triebfeder des Lebens, eine Schwester der Hoffnung.
Sehnsucht nach dem, was noch nicht ist, aber sein soll.
Wie hätten die wenigen, die die Todeslager Deutschlands überlebten, das geschafft,
wenn da nicht die Sehnsucht geblieben wäre, dass eine Rückkehr ins Leben möglich wäre,
wenn sie nicht irgendein Bild dieses Lebens bewahrt hätten?
Wer nicht mehr die Kraft hatte, an dieser Sehnsucht festzuhalten, hatte noch weniger Chancen zu überleben.
Einfach war es, sich in den Strudel des Todes, fallen zu lassen.
Sehnsucht - sich nicht abfinden, mit dem, was ist, auch wenn nicht ganz klar ist, wie der Weg zu ihrer Erfüllung aussehen kann.
Sehnsucht nach einem Ende des Hungers und der Verfolgung ist es, die Menschen auf  unsichere Boote treibt.
Sehnsucht ist schwer abzustellen.
Das zeigte sich auch an den Rufen der Menschen, die in der DDR lebten,
und ihre Sehnsucht nach Freiheit lautstark in die Welt schrien.
Gegen eine Mauer, die als Damm gegen diese Sehnsucht errichtet worden war, sich aber als zu schwach erwies.
Nehmen wir uns einen Moment Zeit und überlegen jeder für sich:
Gibt es zur Zeit etwas, auf sich meine Sehnsucht richtet?
Und wie fühlt sich diese Sehnsucht an, quält sie oder bestärkt sie, lähmt oder beflügelt sie mich.
Pause
Sehnsucht ist eine Triebfeder der Menschen, behaupte ich, aber Sehnsucht hat keine Moral, ist nicht einfach gut.
Menschen sehnen sich nach Unerreichbarem und gehen dadurch an den Perlen der Gegenwart vorbei.
Die maßlose Sehnsucht, ein großes Volk zu sein, hat Deutsche wie große Teile der Welt an einen Abgrund geführt.
Todessehnsucht, Sehnsucht nach dem Himmelreich, weit weg von allem, was ans hässliche Dasein bindet.
Eine Art Opium gegen das Leiden?
Hören wir, wie Paulus von seiner Sehnsucht redet, die er im 2. Korintherbrief im 5. Kapitel beschreibt.
1 Denn wir wissen: wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, so haben wir eine Wohnung, von Gott erbaut, ein ewiges Haus, nicht mit Händen gemacht, im Himmel. 2 Denn darum seufzen wir jetzt auch und sehnen uns danach, dass wir mit dem himmlischen Haus überkleidet werden. 3 So bekleidet werden wir nicht nackt erscheinen.
Denn solange wir in diesem Zelt leben, seufzen wir unter schwerem Druck, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit so das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. 
Paulus, ist das dein Ernst?
Unser Zelt auf Erden mag ungenügend sein.
Immer fehlt ein Hering um es festzumachen und ab und zu regnet es rein.
Und immer wieder wird Menschen ihr Zelt einfach weggerissen, ich weiß.
Aber sich auf den Tod freuen, sich nach dem Himmel sehnen, ist das die Lösung?
Ist es nicht im Gegenteil bewundernswert, wie Menschen sich ans Leben klammern,
immer noch Hoffnung auf Veränderung haben und auf ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben hören?
Und werden wir mit deiner Sehnsucht nach einem himmlischen Zuhause nicht allen Vorurteilen gerecht, die man gegen Christen hegt?
Meine Liebe, mag Paulus vielleicht antworten,
ich stehe so unter Druck, das kannst du dir nicht vorstellen.
Ich lebe in einer brutalen Welt, der ich nackt und schutzlos ausgeliefert bin. Ganz leicht kann ich untergehen.
Und meine Gemeinde in Korinth weiß mich ohnehin nicht recht zu schätzen.
Spott und Streit schlagen mir entgegen.
Was meinst du, wie schwer es mir fällt, an meiner Hoffnung und an meinem Glauben an Jesus fest zu halten.
Da hilft mir die Sehnsucht nach einem himmlischen Haus,
erfüllt von Gottes Güte.
Dort können wir uns die Fetzen vom Leibe reißen, die uns das Leben zumutet zu tragen.
Da können wir uns in Frieden zeigen, wie wir sind.
Da erfahren wir Gerechtigkeit nach allem Leid.
Das ist doch wunderbar.
Aber, versuche ich seiner Schwärmerei Einhalt zu gebieten, ist das nicht Weltflucht?
Kann Gott das wollen?
Lies meinen Brief weiter, antwortet Paulus.
5 Der uns aber dazu befähigt  hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. 6 So sind wir denn allezeit zuversichtlich, auch wenn wir wissen: solange wir in unserem Leibe wohnen, leben wir fern von Gott in der Fremde; 7 denn wir gehen als Glaubende unseren Weg, nicht als Schauende.
8 Wir sind aber zuversichtlich und haben vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei Gott.
Das klingt auch noch nicht so richtig gut, sage ich vorsichtig.
Dann verstehst du nicht, was ich meine, erwidert Paulus.
Du kannst doch nicht leugnen, dass die Welt weit davon entfernt ist, ein friedlicher Ort zu sein.
Fühlst du dich hier richtig zu Hause?
Na ja, sage ich.
Na, ich hoffe nicht, sagt Paulus streng, angesichts der Masse von Hunger und Grausamkeiten, von Flucht und ...
Ist ja gut, sage ich schnell, ich weiß, habe ich alles im Blick.
Und, fährt Paulus wieder ruhiger fort,  ich weiß, dass es unpopulär bei euch ist, das Leben vom Tod her zu betrachten.

Ich bleibe ja auch und halte alles aus.
Aber ich glaube fest und zuversichtlich daran, dass ich auf Gott zulaufe,

auf ein helles und friedliches Zuhause, das ich hier nicht finde,
mit dem ich aber alles vergleiche, was hier ist.

Und mit dieser Zuversicht im Herzen weiche ich nicht aus, keinem Leid, das mir begegnet, keinem unechten Ton.
Ich stelle mich dem und setze alles, was ich habe und kann, dagegen,

weil ich durch Gottes Geist ein Gespür dafür habe, was richtig und falsch ist und was dem Frieden dient.
Ich schweige und bin doch etwas beeindruckt.
Paulus zeigt auf den Text und ich lese den Rest.

9 Darum suchen wir auch unsre Ehre darin, ihm zu gefallen, ob wir daheim sind oder in der Fremde.
10 Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, was er getan hat bei Lebzeiten.

Gericht?, frage ich zweifelnd.
Ja, sagt Paulus.
Und was soll da kommen?, frage ich weiter?
Wenn wir vor Christus stehen, antwortet Paulus ruhig und gelassen, dann schaut er uns an mit Güte und Liebe und Verständnis.
Und er bringt uns alle dazu auf unseren Weg  zu schauen
und wir erkennen, was gerade und was krumm gewesen ist.
Und was ist das mit dem Lohn?, frage ich.
Das werden wir dann sehen, sagt er, aber ich habe keine Angst davor, dass dabei ein Höllenfeuer herauskommt.
Eher so etwas wie eine Läuterung, wenn sie den Sinn und den Unsinn ihres Lebens betrachten.
Das mag für manche recht unangenehm ausfallen, aber Jesus hat bisher noch jeden Sünder mit Hoffnung betrachtet.
Warum soll sich das im Himmel ändern?
Also ist deine Sehnsucht nach dem Himmel etwas, dass dir hilft zu leben?, frage ich.
Ja, sagt Paulus, und  ich empfinde es als große Ehre, dass mir die Augen geöffnet wurden durch Jesus Christus und ich mich auf dem richtigen Weg befinde.
Danke, sage ich und beende fürs Erste das Gespräch.

Das ist nicht populär.
Das Leben vom Tod aus sehen, von der Sehnsucht nach diesem guten Ende aus das eigene Leben betrachten – Wer tut das schon?
Der Soziologe Jean Ziegler beklagt, dass im Zuge des Kapitalismus
der Mensch das Gespür für die Einzigartigkeit des Lebens verliert
und nur noch als Produzent und williger Konsument von Interesse ist.
Er sagt: „
Indem der Mensch sich seiner Endlichkeit bewusst wird, ...., schafft er so etwas wie sein eigenes Schicksal.
Er wird sich seiner „radikalen Einzigartigeit“ bewusst.
Sein Leben ist einzigartig.
Ein Leben, in dem kein Augenblick dem anderen gleicht und in dem auch keiner jemals zurückkehrt.
Das führt zur Verantwortung dem eigenen Leben gegenüber
und in der Folge auch zur sensiblen Achtung der Einzigartigkeit jedes anderen Menschenlebens.“ (aus: Die Lebenden und der Tod)
Der Tod als Freund, als Lebenshilfe?
Menschen erleben, wie der Tod grausam in ihr Leben einbricht und die Liebsten mitnimmt.
Sie spüren, wie schwer es bei uns ist, Menschen zu finden,
mit denen sie diese Erfahrung  teilen können, auch über die Beerdigung hinaus.
Menschen, die am Ende ihres Lebens angelangt sind, Sterbende, können allerdings deutlicher  den Sinn und Unsinn ihres Lebens unterscheiden.
Das hat im Alltag bei uns jedoch kaum einen Platz.
Paulus sicherlich als Mensch noch Angst vor dem Tod, zumindest vor dem Sterben.
Aber er spürt die Augen Jesu, auf den er zuläuft, 
er kann seine Würde, seine Ehre darin finden, den ihm zugedachten Weg so gut wie nur möglich zu laufen
und er vertraut fest darauf, dass das was am Ende wartet, ein Haus des Friedens und der Gerechtigkeit ist.
Durch die Sehnsucht auf den Himmel Klarheit für das Leben gewinnen, ich denke darum geht es ihm.
Sie hilft, dass ich mich  nicht blenden lasse, wegführen lasse von der Einzigartigkeit jeden Lebens.
Diese Sehnsucht vergisst nicht, was Menschen angetan wurde,
nicht die Folgen der Kriege und Trennungen,
die bis heute ihre Spuren im Leben und den Persönlichkeiten der Familien hinterlassen und derer wir am Volkstrauertag gedenken.
Aber die Sehnsucht ist eine Kraft, die uns nach vorne treibt und,
wenn sie die Augen Jesu als Ziel hat,
mit anderem Blick auf die Welt sieht.
Wie kann das aussehen?
Ich wage es, Ihnen nochmal mit dem 9. November 89 zu kommen.
In dieser Nacht ist die Freude explodiert.
Menschen aus zwei getrennten Staaten sind sich in die Arme gefallen,
ein Moment überschwänglichen Glücks, in dem alles offen war.
Die Sehnsucht hatte ihr Ziel erreicht.
Aber was genau war ihr Inhalt?
Freiheit, ja, aber Freiheit wozu genau?
Die Sehnsucht nach dem goldenen Westen war unklar.
Das Bild von diesem Westen stimmt mit der Realität in diesem Westen nicht unbedingt überein.
Wäre es nicht gut gewesen, erst einmal Menschen, die gelernt hatten, den Mund zu halten,
mehr Zeit zu geben, ihre Erfahrungen  mit den anderen zu teilen?
Und ihnen von unseren zu erzählen?
Hätte man nicht in Ruhe überlegen können und das Beste aus beiden Staaten nehmen und daraus eine neue, gerechtere Ordnung schaffen können?
Das hätte man das tun müssen, wenn man wirklich Sehnsucht nach einem gerechten und partnerschaftlichen Leben gehabt hätte.
Die große Freude fiel schnell in sich zusammen,
auch wenn sich das Glück über die neue Bewegungsfreiheit,
das Ende der Diktatur in der DDR und den Fall der Mauer sicher bis heute hält.
Die  Stadt schrumpfte um die Hälfte der Bevölkerungszahl, die Arbeitslosigkeit nahm rapide zu,
ein Theater und Kino nach dem anderen,
eine Unzahl von Betrieben, den Gesetzen des Marktes nicht gewachsen, schlossen.
Bis heute ist bei vielen ehemaligen Bürgern der DDR Bitterkeit geblieben, obwohl sie sich die Zeit der DDR nicht zurückwünschen.
Verstehen Sie mich nicht falsch:
Nach wie vor gehört diese Nacht vom 9. November zu den zwei überwältigensten Ereignissen in meinem Leben.
Das 2. ist die Geburt meiner Kinder.
Aber ich kann mich auch an meine Enttäuschung erinnern, dass die große Chance dieses Augenblicks vertan wurde, im Land,
auch in der Kirche, die einen kräftigen Ruck ins Konservative machte.  
Und das ist schade, denn solche Momente gibt es nicht häufig,
Momente, in denen alles offen ist und die Karten neu gemischt werden könnten.
In der Sehnsucht nach Freiheit hätte die Sehnsucht nach echtem Zusammenwachsen stecken müssen.
Was haben die anderen zu bieten, was wir
und was sollte als neuer deutscher Staat unser Signal sein, vielleicht der friedlichste Staat Europas zu werden, so als Zeichen angesichts unserer Geschichte?
Sehnsucht ist nicht an sich gut.
Jesus wollte uns eine Sehnsucht nach einem friedlichen Leben ans Herz legen, das weit über das Machbare hinausgeht
und Grenzen überwindet, die ähnlich unzerstörbar erscheinen, wie einst die Mauer.
Darum, sagt Paulus, suchen wir auch unsre Ehre darin, ihm zu gefallen, ob wir daheim sind oder in der Fremde.
Denn Gott
hat sich durch Jesus die Ehre gegeben,
die Ehre seinen Weg mit unserem zusammenzutun.
Der Himmel bei Paulus ist ein Ort der Klarheit, in der Liebe und Gerechtigkeit die Realität prägen.
Und Gott bittet uns von diesem Ort aus,
vergesst nicht euren Blick immer wieder zu heben auf dieses Ende bei mir.
Lasst das, worauf sich eure Sehnsucht richtet, nicht zu klein werden.
Prüft, ob sie euch wirklich gerecht wird.
Bezieht die Nöte und Sehnsüchte der anderen in eure Sehnsucht ein und lebt nicht an ihnen vorbei.
Gestaltet euer Leben so, dass ihr immer noch Verlangen nach mehr, nach dem „Haus im Himmel“ fühlt.
Lasst es zu, dass ihr den Druck dieses Lebens spürt, bei euch und anderen.
Diese Hoffnung auf eine neue Kleidung, ein neues Leben im himmlischen Haus ist keine Flucht, kein Opium.
Wenn ich die Fremdheit dieser Welt an mich heran kommen lasse und damit die Sehnsucht nach einem anderen Zuhause,
wenn ich die Endlichkeit meines Lebens und seine Einzigartigkeit ernstnehme und mich auf die Weite von Gottes Blick einlasse,
dann lebe ich wirklich in der Realität,
dann entwickle ich  ein Gespür  dafür, was dem Frieden dient.
Dann fühle ich mich bei Gott zu Hause
und in meiner Sehnsucht nach diesem Haus begegne ich Gott.
Auch heute.
Auch hier.
Amen