Samstag, 11. November 2017

Lk 11, 14-23 Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr 2017


I. Es ist Nacht.
Ein Traum greift nach mir.
Die Saat geht auf.
Was ich weggesteckt habe am Tag, kommt hoch im Schlaf, gewinnt Gestalt.
eine Welt, der ich nicht entrinnen kann.
Dunkle, dämonische Gestalten,
greifen nach mir, treiben mich in die Enge.
Kalt und unbarmherzig.
Lähmen meinen Körper.
Verschließen meinen Mund.
Sprachloses Entsetzen.
Und dann zieht mich etwas aus dem Schlaf.
Ich wache auf.
Greife um mich.
Spüre die Decke, das Bett.
Blicke um mich: Vertrauter Raum.
Tiefes Durchatmen.
Ich bewege mich.
Gott lockt mit seinem Finger den Morgen hervor.
Wie immer.
Menschen gehen auf der Straße zur Arbeit, bringen ihre Kinder in die Kita.
Die Welt hat mich wieder.
Liegt offen und frei vor mir.
Alles gar nicht so schlimm.
Ich kann sehen, reden, handeln, kann leben.
Was für eine Erleichterung!

Es ist Tag, ein Tag in dieser Welt.
Einer steht vor der Kirche in seiner kleinen Stadt,
irgendwo im Nirgendwo von Gods own country.
Ein Gewehr hat er in der Hand.
Er hört das Reden und Lachen und Singen der Menschen.
Doch sein Herz rührt sich nicht.
Schweigen und Bitterkeit, Hass und etwas Rotes in seinen Augen lähmen es.
Er findet keine Worte für diese Menschen, nie mehr.
Nur eine Tat löst sich aus der Enge seines Alptraums,
den er lebt mit offenen Augen.
Und er stößt die Tür auf –
und durchbricht die Wand zu den anderen mit der einzigen Sprache, die ihm noch geblieben ist.
Hinterlässt Tod und sprachloses Entsetzen.
Alptraum Leben.
Kein Morgen folgt.

Es ist Tag, ein Tag in dieser Welt.
Und die Sonne glüht und Wasser ist fern.
Die Menschen im Jemen wissen:
Keine Macht der Welt interessiert sich für sie.
Eingesperrt sind sie zwischen dem mörderischen Hass der Rebellen und der Profitgier der Großen.
Und sterben ihren Alptraum Leben.
An Cholera. An Schüssen. An Hunger und Durst.
Mit den Booten aus Deutschland blockieren die Saudis die Häfen.
Keine Flucht möglich.
Die UNO malt die größte Hungerkatastrophe seit Jahrzehnten an die Wand, die die Menschen dort von dem Rest der Welt trennen.
Doch keiner antwortet.
Das tödliche Schweigen vernichtet die Kinder des Jemen.
Alptraum Leben.

Gibt es da noch einen Morgen?
Ein erleichtertes Aufatmen?
Wir können das doch mit dem Mitgefühl oder haben wir die Worte verlernt und Gott ausgesperrt?
Wie lösen wir uns aus den Alpträumen, die uns die Sprache rauben?
Wie finden wir Worte, die trennende Wände durch Mitgefühl niederreißen und nicht wie Gewehrkugeln durch die Welt schießen, einander stoßen und verletzen?
Und hilft uns Gott dabei, diese Worte zu sammeln und uns den Mund zu öffnen?

Eine Geschichte aus der Bibel erzählt davon, erzählt von einem Tag,
der beginnt als Alptraum und endet paradiesisch.
Ein Märchen, so scheint es und doch ein Tag in unserer Welt.
II. Es ist Tag.
Und doch kein Leben um ihn.
Kein Geräusch dringt durch sein Ohr.
Er sieht lautloses Geschehen an sich vorbeilaufen,
Kinder spielen,
Bauern auf dem Markt reißen die Münder auf und preisen ihre Ware an.
Männer stehen in Gruppen auf der Straße, Frauen am Brunnen.
Ihre Hände bewegen sich in der Hitze ihrer Gespräche.
Er kann es nicht hören, er kann nicht eingreifen in dieses lautlose Geschehen.
Er spürt eine Wand um sich wie in einem bösen Traum.
Sein Mund ist verschlossen. Seine Zunge liegt lahm in ihrer Höhle.
Er sieht, ja, aber kein Mensch sieht ihn.
Er steht mittendrin und ist doch draußen,
erbarmungslos getrennt von allem,
von den Menschen und auch von Gott, den er nicht spürt in seiner Welt.
Sprachlos.
Einsam und allein.
Keine Macht der Welt interessiert sich für ihn.
Alptraum Leben.
Und  da kommt einer und  lockt mit Gottes Finger Leben herein in seine Starrheit.
Sein Mund bewegt sich.
Etwas Liebevolles, Zuversichtliches hat ihn gestreift, sein Herz bewegt,
sanft und doch machtvoll.

Und die Wand fällt in sich zusammen und sein Raum weitet sich.
Leichtes verscheucht den dunklen Traum.
Sonne spürt er
und den Wind hört er rauschen.
Menschen reden.
Er weiß: Die Welt hat mich wieder.
Liegt offen und frei vor mir.

Was für eine Erleichterung!

Und Jesus trieb einen bösen Dämon aus, der war taub und stumm.
Und es geschah, als der Dämon ausfuhr, da redete der Taubstumme. Und die Menge verwunderte sich.


Und alles hört zu.
Alle schauen ihn an, als ob sie ihn zum ersten Mal sehen.
Die Bauern haben ihren Stand verlassen, die Frauen die Wasserkrüge vergessen,
sie umstehen ihn staunend.
Er sieht ihnen in die Augen,
fängt ein vorsichtiges Lächeln auf, gibt es zurück, merkt:
wir teilen denselben Raum.
Er hält ihnen Worte hin wie Blumen,
möchte gemeinsam mit ihnen Helles zaubern gegen die Dunkelheit.

III.
Doch schon löst sich der Blick der Leute von ihm, heftet sich auf Jesus, fragt:
Ist es Tag oder ist es Nacht?
Welche Macht will da über uns kommen?
Dieser Mensch da, der gebietet so selbstverständlich über Dämonen. Tödliche, verderbliche Kräfte sind das doch,
Werkzeuge des Teufels, die das Gute im Menschen auffressen,
unersättlich sind und sein werden, bis sie alle Macht über uns haben und über die ganze Welt.
Ist er mit ihm im Bunde?
Verführt uns ein teuflischer Alptraum oder lockt Gott uns durch ihn mit einer leuchtenden Vision seines Reiches?
Sie zögern.
Schon wächst Misstrauen und Furcht, kriecht in ihre Herzen und lähmt ihre Zunge.
Eine Mauer des Schweigens zieht sich langsam hoch.
Doch da weht ein Wind zwischen ihnen.
Und etwas rührt an ihr Herz, ganz sanft, ganz leicht nur.
Doch sie spüren es und Mut kommt und sie tun den Mund auf.
Gott sei Dank.
Behalten es nicht für sich.
Reden und geben dem Leben und diesem fremden Wundertäter eine Chance, der sie aufmunternd anlächelt.

Einige aber unter ihnen sprachen: Er treibt die bösen Geister aus durch Beelzebul, ihren Obersten. Andere aber versuchten ihn und forderten von ihm ein Zeichen vom Himmel.
Er aber erkannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet und ein Haus fällt über das andre.
 Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die bösen Geister aus durch Beelzebul. Wenn aber ich die bösen Geister durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein.
Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.
Wenn ein Starker gewappnet seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden.
Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute.
Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“


Und viele folgen der Einladung,
trauen ihren Herzen, dem Guten, das sie sehen, vernehmen die Worte des einstigen Stummen und sagen sich:
Nein, wirklich, da würde sich der Teufel tatsächlich ein Eigentor schießen. Das ist nicht in seinem Sinn. Das ist nicht er.
Und sie holen Wein und Brot und noch dies und das und sitzen die ganze Nacht mit diesem Rabbi aus Nazareth.
Ein Wort hält dem anderen die Hand hin, verbindet sich, holt andere dazu, gewinnt an Farbe.
Gottes Finger lockt ihre Träume hervor, ihr Hoffen, ihre Kraft.
So ist das Reich Gottes ja zu euch gekommen.
Eine Nacht lang glauben sie, dass das Leben sich in Gottes Takt bewegt.
Und manche nehmen das am nächsten Morgen mit in ihr Leben,
trauen weiter der sanften Macht Gottes,
testen die Grenzen aus mit ihrem friedlichem Willen,
sehen den anderen, den Fremden, blicken in ihre Zukunft,
zum ersten Mal mit Mut und ohne Angst und wissen in ihrem Herzen:
Mitten unter uns ist er, der treue Gott mit seinem sanften Geist.
Was für eine Erleichterung!

IV. So ist das Reich Gottes ja zu euch gekommen, versichert uns Jesus.
Mitten unter uns lebt Gott,
lockt mit seinem Finger hinein in die Weite.  
Doch nicht jeder folgt seinem Fingerzeig.
Viele schießen ihre Wörter wie Kugeln durch den Raum der Welt,
sie prallen aneinander, verletzen sich,
bauen Wände, Mauern, ganz hohe,
hinter denen sich Dämonen einrichten, die gefräßig alles Mitgefühl und alle Zukunft in sich aufsaugen,
andere in die Nacht ihrer Alpträume ziehen,
blutige Spuren hinterlassen,
Menschen gegeneinander aufbringen und sie zu Analphabeten des Friedens machen.
Wir mögen uns fragen, warum Gottes Finger so sanft nur an Herzen rührt
und freundliche Worte wie ein Hauch erscheinen
und der Ruf nach Frieden und Gerechtigkeit oft wie Hohn.
Aber seine Geschichten erzählen auch, wie unbeirrbar Gott redet und lockt.
Jeden Tag, auch in der tiefsten Schwärze des Todes, der Jesus sich ausgesetzt hat, für uns, antwortet Gott mit Leben:
Er weckt uns mit guten Worten,
er lässt einen Wind aufkommen,  der unser starres Denken verwirrt,
er lockt Leben in die von Dämonen des Hasses und der Angst verseuchten Gegenden unseres Leben.
Unser Gott spricht  und spricht,
wie am ersten Tag
vom Guten, immer vom Guten
und hält uns seine Worte hin wie Blumen.
Wir wachen auf und sehen:
Die
Welt liegt offen und frei vor uns.
Wir sehen, reden, handeln, leben
.
Es ist an uns die Blumen anzunehmen aus seiner Hand und daraus einen Strauß zu binden, der bunt ist und nach Sommer duftet,
andere verführt, ihre Worte dazuzutun.
Wir wissen: Wir sind auf der sicheren Seite.
Die Welt ist nicht des Teufels.
Es ist und bleibt Gottes Welt. Heute und alle Tage.
Setzen wir uns gemeinsam an den Tisch,
teilen Brot und Wein und dehnen die Enden der Nacht,
testen die Grenzen aus mit unserem friedlichem Willen,
bringen Mauern ins Wanken,
sehen den anderen, den Fremden, blicken in die Zukunft,
mit Mut und ohne Angst und vertrauen in unseren Herzen:
Mitten unter uns ist er, der treue Gott mit seinem sanften Geist.
Was für eine Erleichterung!
Amen.



Freitag, 3. November 2017

Mt 10, 34-39 Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Von schwierigen Entscheidungend


Jeden Tag entscheiden wir uns,
im Kleinen und manchmal auch im Großen.
Diese Hose oder jene,
diesen Weg oder gehe ich heute mal anders,
der Regen hat nachgelassen, soll ich walken gehen? Gut wäre es ja.
Soll ich Rosenkohl in den Einkaufswagen legen, obwohl meine Kinder ihn nicht mögen?
Ja, sollen sie leiden, heute bin ich mal dran.
Kleine Entscheidungen und manchmal auch große,
Entscheidungen, die mein Leben bestimmen.
Mathestunde schwänzen? Ja oder Nein.
Gut, dass ich es getan habe.
Denn auf dem Spielplatz, auf den ich mich mit meiner Freundin zurückgezogen habe, da konnte ich die große Frage klären, was werden soll nach dem Abi und Theologie gewählt.
Sie kennen das auch, vermute ich,
diese kleinen und großen Entscheidungen,
im täglichen Leben und die großen, die Ihr weiteres Leben prägen,
der Partner, die Partnerin, mit dem, mit der  Sie es teilen,
der Ort, an dem Sie leben und vieles mehr.
Vielleicht teilen Sie auch meine Bewunderung für Menschen,
die ihr ganzes Leben unter eine große Entscheidung stellen.
Sie  entscheiden sich voller Leidenschaft für ein großes Ziel,
leben es ohne Wenn und Aber, ordnen alles andere dem unter.
Tolstois Anna Karenina verlässt Mann und Kind und lebt kompromisslos ihre Liebe zu dem schönen Alexej Wronski.
Sie lässt ihr Leben am Ende.
Aber es gibt kein Zurück in das Gleichmaß ihres bürgerlichen und farblosen  Daseins.
Undenkbar.
Marilyn Monroe ist leidenschaftlich in das Bild der erfolgreichen Schauspielerin verliebt.
Sie lebt es, auch wenn es über ihre Kräfte geht und versucht das unsichere, misshandelte Kind vor sich und anderen zu verstecken.
Nie wieder will sie sich dem Grau einer Nebenrolle ausliefern.
Nicht im Beruf, nicht im Leben.
Nelson Mandela entscheidet sich für die Liebe zur Gerechtigkeit:
Er will die Unterdrückung seiner Leute, der Schwarzen in Südafrika beenden.
Das lebt er, ohne Rücksicht auf seine Liebe zu seiner Frau, seinen Kindern.
Die Liebe für ein befreites Südafrika überlebt auch 27 Jahre Gefangenschaft auf Robben Island.
Am Ende ist noch Kraft da, um das Leben dort zu gestalten.
Seine Frau hat er auf dem Weg verloren.

Manchmal frage ich mich, ob ich mich nicht immer wieder deutlicher entscheiden muss,
intensiver leben, mich intensiver und klarer einsetzen für andere,
den Lauf der Welt nicht so voll ohnmächtiger Wut oder Angst hinnehmen, intensiver...
Tja, sagt da einer neben mir.
Ich warte gerade an der Kasse mit meinem Rosenkohl im Wagen.
Du mal wieder, sage ich. Was liegt an?
Ich habe dein inneres Gemurmel gehört, sagt Jesus.
Wundern Sie sich nicht.
Der kommt ab und zu vorbei, auch wenn  er stört.
Und?, frage ich.
Entscheidungen sind wichtig, sagt er ernst.
Was du nicht sagst, erwidere ich ironisch.
Klare Entscheidungen, die auch mal wehtun, vermisse ich bei euch ab und zu.
Ich deute auf den Rosenkohl.
Vergiss deinen Rosenkohl, sagt Jesus abschätzig.
Ich vermisse in euren Entscheidungen die Größe,
dass ihr die Welt im Blick habt,
die Gerechtigkeit, die Gott wünscht,
dass ihr ohne Wenn und Aber der Klarheit folgt, die Gott euch ins Herz gelegt hat, und nicht nur euer Mittagessen im Kopf habt.
Komm schon, Jesus, sage ich, ich bin beim Einkaufen.
Er zieht mich aus der Schlange vor der Kasse, direkt vor das Regal mit tausendundeiner Süßigkeit.
Ich wende seufzend den Blick ab.
Hast du einen Tipp?, frage ich ihn. Kleine Entscheidungshilfe?
Natürlich, sagt er und sein Ton wird etwas weihevoll, sein Blick streng.
Höre denn.

Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
35 Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter.
36 Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.
37 Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.
38 Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert.
39 Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.

Na, holla, holla, Jesus, sage ich erschüttert. Das ist aber starker Stoff.
Wie meinst du das?, fragt er erstaunt.
Das klingt sehr anstrengend. Und brutal. Und verletzend.
Wie war das mit der Liebe und der Gewaltlosigkeit?
Ich meine das mit dem Schwert doch nicht wörtlich, sagt er gereizt.
Du kennst mich doch.
Was kann ich dafür, dass Menschen meine Worte missbrauchen, aus dem Kontext reißen und Kreuzzüge anzetteln, diese Kretins.
Nein, ich will,  dass ihr euch einsetzt, ganz und gar, mit Haut und Haaren, für das Reich Gottes.
Seid kompromisslos. Seid klar.
Brennt, aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, mit aller Kraft,
Nährt euch einzig und allein aus der Flamme der Liebe Gottes.
Schneidet alles ab, werft aus eurem Leben, was diese Flamme in euch verdeckt oder löschen könnte.
Haltet euch an das Gute, um jeden Preis!
Da müssen manchmal klare Entscheidungen getroffen werden, die weh tun, dir selber und anderen auch.
Mit deiner Mutter warst du ganz schön grob, versuche ich ihn zu bremsen.
Meine Mutter, sagt er mürrisch.
Die hat gesagt, ich habe einen Knall.
Die Römer bestimmen hier, hat sie gesagt, das weiß doch jeder.
Wir müssen sehen, wie wir über die Runden kommen.
Du als der Älteste hast Pflichten, hat sie gesagt.
Reiß dich zusammen und tu, was von dir erwartet wird.
Und du hast sie einfach stehen lassen, erinnere ich ihn und hast von da an auf der Straße gelebt.
So ist es, erwidert er,
die Vögel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann.  
Klingt verführerisch, sage ich spöttisch.
Ja, sagt er, viele sind mir gefolgt.
Zwölf, berichtige ich ihn.
Ach was, erwidert er, glaub doch nicht alles, was das du liest.
An manchen Tagen waren wir zu 100en unterwegs.
Hier, schau mal.
Und er legt mir eine Hand auf den Kopf und mein Blick verschwimmt.
Ich sehe eine große Gruppe von Menschen auf einer staubigen Landstraße hinter Jesus hergehen,
Männer und Frauen.
Einer hebt den Blick und sieht mich an:
Er isst mit den Sündern, sagt er, er hat mir die Tür zum Leben geöffnet, als ich noch Zöllner war.
Jetzt helfe ich und öffne anderen die Türen.
Er berührt die Verachteten und Ausgestoßenen, fährt eine Frau fort und es ist ihm egal, ob er Ärger mit den Pharisäern bekommt.
Jetzt kriege ich meine Tage wieder regelmäßig.
Er hat gesagt, tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahe herbeigekommen, sagt ein Jugendlicher, ja, es ist schon mitten unter euch. Durch mich.
Und er hat recht. Es geschehen Zeichen und Wunder.
Und wir gehen seinen Weg mit.
Aber die Welt ist doch gefährlich und brutal, erwidere ich und rast auf den Abgrund zu, heute noch mehr als damals.
Reich Gottes? Wo denn?
Das Reich Gottes ist eben nichts für Memmen, mischt sich eine große Frau ein.
Es ist da, wenn du ihm eine Chance gibst.
Wir haben unser altes Leben verloren, aber haben wir ein neues gewonnen, mitten in dieser verkorksten Welt.
Aber es ist gefährlich und kann euch euer Leben kosten, werfe ich ein.
Und Jesus wird...
Doch ich bremse mich. Das Ende kommt früh genug.
Sollen sie doch die Zeit mit ihm auskosten.
Ja, es ist gefährlich, fährt die Frau fort, und manchmal auch schmerzhaft, aber der Gewinn ist groß.
Wir sind frei.
Leben wie die Lilien auf dem Feld. Gott sorgt für uns.
Nehmen uns die Freiheit für den Frieden zu leben in gewalttätigen Zeiten.
Ich habe mein Herz ganz der Lebendigkeit und Liebe Gottes geöffnet.
Es ist wunderbar zu handeln und zu reden, wo andere nur ohnmächtig die Hände heben und schweigen.
Hm, sage ich, nun doch etwas beeindruckt.
Sicher, wagt sich ein kleiner schüchtern wirkender Mann vor, in dieser Welt schmerzt diese Klarheit.
Familien zerbrechen, und Freundschaften und Lebenskonzepte, ja.
Es gibt Streit, es gibt Tränen,
es gibt Unverständnis und Beziehungen, die nicht zu heilen sind.
Es gibt Verfolgung, das wird bei euch nicht anders sein.
Jesus schließt auch Türen, um die Tür zu Gottes Frieden und Gerechtigkeit offen zu halten.
Für alle.
Wir müssen weiter, sagt ein anderer ungeduldig.
Und ich sehe, dass sich die anderen aus der großen Gruppe schon um einiges auf der Straße entfernt haben.
Na, dann, sagt die große Frau, mach’s gut. Und mach was draus.
Und langsam verschwimmt das Bild vor meinen Augen und ich blicke wieder auf das Regal, Milka, die zarteste Versuchung.
Ich seufze und schaue schnell weg.
Und?, fragt Jesus.
Jesus, sage ich vorsichtig, ich will dir nichts vormachen.
Du bist hier unter nüchternen Protestanten im wohlhabenden Westen.
Ja, wir hatten einen Luther, der vermutlich mehr nach deinem Herzen ist mit seinen rigorosen Entscheidungen.
Geht so, meint Jesus lakonisch.
Aber wir, fahre ich fort, wir sind nicht so einfach zu kriegen mit der Vision: Lebt ungebunden auf der Straße und folgt mir nach und verändert die Welt, koste es was es wolle.
Oder gar wer sein Leben gewinnt, der wird es verlieren und wer es verliert um meinetwillen, der wird es gewinnen.
Ich weiß nicht.
Ich glaube, du machst es dir zu einfach, weist mich Jesus zurecht.
Es gibt doch viele Menschen, auch heute, die sich ganz und gar einem Ziel verschreiben und danach leben,
Nelson Mandela, die Leute, die in der Bahnhofsmission arbeiten oder...Greenpeace, wäre das nichts für dich?
Schau mich doch an, Jesus, sage ich gereizt, ich bin nicht sportlich genug.
Und außerdem arbeite ich ständig für dich und in meiner Freizeit möchte ich mal ins Kino gehen.
Jesus hebt eine Augenbraue.
Gefährliches Zeichen, wie ich weiß.
Meine Liebe, sagt er streng, ich glaube, du weißt genau, was ich meine.
Glaube nicht, dass ich euch nicht kenne.
Glaube nicht, dass ich blöd bin und weiß, dass es schwer ist, euch in Bewegung zu setzen,
obwohl ihr auf Kosten anderer lebt mit eurer brutalen Wirtschaftsordnung, obwohl die Umwelt gefährdet ist.
Ich erwarte ja gar nicht, dass ihr euch ans Kreuz nageln lasst.
Nett von dir, versuche ich den Ernst seiner Rede etwas aufzulockern.
Sei still, fährt er mich streng an.
Aber ihr sollt ernst nehmen, dass ich alle Türen geöffnet habe und ihr alle den Weg zum Frieden gehen könnt.
Gott hat dafür gesorgt, dass das weitergeht, bis in alle Ewigkeit.
Ich erwarte, dass ihr  in euren Entscheidungen immer auch dem weiten Blick Gottes auf die Welt, auf die anderen eine Chance gebt.
Wie meinst du das?, frage ich.
Na, nimm zum Beispiel diesen Weinstein, diesen Filmproduzent.
Diesen miesen Sack?, frage ich, der über Jahrzehnte Frauen missbraucht und sogar vergewaltigt hat?
Genau den, antwortet er.
Was weißt du denn davon?
Jesus sieht mich nur bedeutungsvoll an.
Schon gut, sage ich. Und? Was soll ich mit dem?
Na, sagt Jesus, nehmen wir mal eine Frau, die unbedingt Schauspielerin werden will, wie diese Marilyn Monroe.
Sie hat Talent, sie weiß, sie hat das Zeug zu etwas Großem und will es um jeden Preis leben.
Und dann gerät sie an diesen Weinstein.
Verstanden, sage ich.
Sie verliert ihr Leben, wenn sie es eigentlich gewinnen will, weil ihr Leben vergiftet wird,
weil sie sich zeitlebens schämt oder zeitlebens mit dieser Verletzung herumläuft.
Moment, sagt Jesus, ich bin noch nicht fertig.
Nehmen wir an, sie entscheidet sich, das zuzulassen, lässt sich von ihm befummeln oder geht sogar mit ihm ins Bett.
Jesus, sage ich schockiert.
Hergott, Mädchen, sagt er, stell dich nicht so an.
Also, sie lässt sich auf die Wünsche des Herrn Weinstein ein.
Und ist stark.
Und steckt das weg.
Und kann es vergessen. So was gibt’s.
Sie erreicht ihre Ziele und wird eine der ganz Großen.
Na super, sage ich, und was ist mit den anderen?
Genau, sagt Jesus, was ist mit den anderen?
Ihre Entscheidung, das mit sich machen zu lassen, hat Folgen.
Für andere.
Die nicht so stark sind.
Die verletzt werden.
Die tatsächlich ihr Leben verlieren und es nicht ertragen mit dem Gedanken daran zu leben.
Diese eine Frau stützt ein System des Unrechts, auch wenn sie persönlich gewinnt.
Genau wie die Reporter und Regisseure, die es alle wussten und am Ball bleiben wollten und es mitgetragen haben.
Hm, sage ich.
Ihr sollt anders leben.
Das ist das Mindeste, was ich erwarte.
Verliert in euren Entscheidungen die anderen, die Welt nicht aus dem Blick.
Traut euch in euren Herzen Gottes ganze Liebe zu spüren, die er hineingelegt hat.
Fühlt mit den anderen und bleibt klar und gebraucht das Schwert meiner Klarheit,
auch wenn es schmerzt und ihr Leute vor den Kopf stoßt,
selbst dann, wenn ihr eure persönlichen Ziele nicht erreicht und euer Leben verliert.
Verstanden?
Ja, sage ich.
Dann ist es ja gut, sagt Jesus wieder freundlich.
Ich muss los, meint er.
Und ich muss Mittagsessen kochen, erwidere ich.
Mach’s gut, bis zum nächsten Mal.
Schalom, sagt Jesus bedeutungsvoll.
Und dann stehe ich wieder in der Schlange und bezahle und mache mich mit meinem Rosenkohl auf den Heimweg, wo mich der Zorn meiner Kinder erwartet.
Es mag wunderbar sein, diese Freiheit, etwas tun zu können, wo andere nur ohnmächtig die Hände heben.
Und es gibt wirklich schönere Worte als diesen Predigttext aus dem Matthäusevangelium.
Ich bin mir auch nach dem Gespräch mit Jesus nicht ganz sicher, ob das der richtige Weg ist, uns zu ermahnen.
Aber ich nehme mir vor, wieder mehr daran zu denken,
dass Gott Raum braucht, um zu handeln,
ich Raum in meinem Leben  offen halte,
Kraft bereit halte, für die Momente, in denen meine Klarheit und mein Handeln gebraucht wird.
Gott braucht unsere Hände, unsere Sprache, unsere aufrechte Haltung.
Wir alle haben Ziele im Leben, Dinge und Menschen, die uns wichtig sind und an denen unser Herz hängt.
Vergessen wir aber nicht:
Wir nennen uns Christinnen und Christen,
und sind auch auf dem Weg, wie die, die Jesus auf staubigen Straßen folgten.
Memmen oder Egozentriker sind da nicht gefragt.
Es braucht Menschen, die durch ihr Handeln anderen Mut machen, an andere zu denken und danach zu handeln.
Es braucht Menschen, die sich trauen zu erkennen:
Gott lebt in meinem Herzen mit seiner brennenden Liebe.
Ich folge seiner Spur und gebe mich nicht damit zufrieden, dass die Welt so bleiben muss, wie sie ist.
Wir leben in einer Welt, in der wir uns entscheiden müssen. Immer wieder.
Im Kleinen und im Großen.
Es braucht Menschen, die die Freiheit ergreifen, die Gott uns durch Jesus versprochen hat,
die Freiheit immer wieder auch die richtigen Entscheidungen zu treffen, wie es der Wochenspruch uns nahelegt:
Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
Amen