Samstag, 29. Oktober 2011

PRedigt zu Mk 2, 1-12 19. nach Trinitatis 30. 10. 11


Markus 2,1-12, 19.Trinitatis, 2011
(Anregung durch: Rainer Schmidt, Lieber Arm ab als arm dran, 2004)
Sind Sie schwindelfrei? Ich nicht.
Diese Kanzel, die geht gerade noch so.
Aber auf einem Dach, da wird mir schon sehr anders.
Und ich war übrigens auch noch nie auf dem Funkturm. Jetzt ist es raus.
Die Geschichte, die wir in der Evangeliumslesung gehört haben, ist eine schwindelerregende Geschichte.
Schwindel, so lautet die medizinische Definition, ist die wahrgenommene Scheinbewegung zwischen sich und der Umwelt.
Schwindel entsteht, wenn wir für einen Moment nicht genau wissen, wo oben und unten ist.
Kinder mögen das ab und zu. Und manche Menschen geben sich auf dem Rummelplatz in apokalyptisch wirkenden Drehinstrumenten diesem Gefühl hin. Im allgemeinen, behaupte ich mal, ist Schwindel jedoch nicht besonders angenehm. Für die meisten.
Was hat sie nur mit dem Schwindel, werden sich manche fragen.
Heute geht es um einen Gelähmten und um Sündenvergebung und um Heilung.
Das ist richtig. Aber es ist auch eine Geschichte vom Abheben in schwindelerregende Höhen und der Begegnung mit schwindelerregenden Abgründen.
Also halten Sie sich fest.
Biblische Geschichten erzählen immer wieder anderes, je nachdem welchen Schlüssel man in der Hand hält.
Und ich bin mir relativ sicher, dass die, die uns diese Geschichte von Jesus weitergeben, einen Schlüssel in ihr versteckt haben, der nicht auf den ersten Blick ins Auge fällt.
Daher möchte ich den Weg der Geschichte noch einmal mit Ihnen zusammen nachgehen.
Wer geht schon zur Tür herein, wenn es auch anders geht?
Vier Freunde tun es.
Sie wollen ihren depressiven gelähmten Freund zu Jesus bringen, dem Heiler und Mann Gottes.
Ob der Gelähmte das will, ob er daran irgendwelche Hoffnungen, knüpft, wird nicht gesagt.
In der ganzen Geschichte wirkt er wie abwesend, ausgeliefert. Er lässt machen. Er selber hat keinen Antrieb.
Doch zurück zu den Freunden.
Es hätte viele Möglichkeiten für sie gegeben, um zu Jesus  zu kommen.
Gut, es war voll in und vor dem Haus.
Aber auch die längste Predigt, die längste Versammlung nimmt einmal ein Ende. 
Sie hätten einfach warten können, bis Jesus herauskommt.
Sie hätten sich auch rigoros durchdrängeln können.
Sie hätten laut nach Jesus rufen können und zwar so lange, bis er kommt.
Hat ja beim blinden Bartimäus auch geklappt.
Aber das ist alles anscheinend viel zu einfach.
Die Freunde tun etwas anderes. Sie heben ab.
Erst einmal heben sie selbst vom Boden ab und bringen ihren Freund über die Außentreppe des orientalischen Hauses auf das Dach.
Und dann heben sie das Dach ab. Zumindest große Teile davon.
In aller Ruhe.
Kein Protest ist zu hören.
Der Hausbesitzer scheint kein Problem damit zu haben, dass sein Dach zerstört wird.
Es ist eigentlich nicht anzunehmen, dass Hausbesitzer damals anders drauf waren als Hausbesitzer heute.
Und ich kenne keinen hier, der Ruhe bewahren würde, wenn plötzlich über ihm der Putz bröckelt.
Aber in der Geschichte nehmen alle im Haus das Fallen des Mörtels und der Steine einfach hin.
Warum? Warum wird diese Geschichte so erzählt?
Der Schlüssel, da ist er.
Denn im Verlauf der Erzählung geht es vor allem um dieses Handeln der Freunde und um die Position, in der sie sich befinden, dort oben auf dem Dach, dem Himmel nahe.
Der Gelähmte ist erst mal Nebensache.
Die Freunde öffnen eine Tür.
Nicht Mitleid mit dem Gelähmten bringt Jesus zum Reden und Handeln.
Im Text heißt es „ Als nun Jesus ihren Glauben sah,...“.
Stellen Sie sich die Szene vor. Jesus blickt nach oben und mit ihm alle anderen. Diese Blickrichtung ist es, die die Erzähler erreichen wollen.
Durch das offene Dach ist die Weite des Himmels zu sehen und darin die vier Freunde, die den Schwindel der Höhe aushalten.
Ein bisschen kitschig vielleicht, dieses Bild, aber genau darum geht es.
Die die Geschichte erzählt haben, wollen uns das weitergeben, ihre Erfahrung mit Jesus, ihre Erfahrung mit ihrem Glauben:
Jesus schätzt Menschen, die abheben und verrückte Dinge tun.
Jesus will, dass Menschen Himmel und Erde in Bewegung setzen um etwas zu verändern, was unabänderlich scheint.
Sie sollen auch angesichts von Schmerz und Krankheit darauf vertrauen, dass sie in einer Welt leben, in der Gott das Sagen hat.
Sie sollen glauben, dass die Welt in Gottes Händen ist und von seinen Händen bewegt werden kann, dass Gott ihnen nahe ist, ihr Freund in jeder Lage.
Das sollen sie leben,  auch wenn das schwindelig macht,
wenn man den vertrauten Boden der lähmenden und unabänderlichen Tatsachen verlässt und über wacklige Brücken geht.
So lebt man im Himmel. Das muss man eben aushalten.
Und die Freunde halten den Schwindel des Ungewohnten aus und bringen vom Himmel her den Gelähmten auf die Erde, damit sich dort etwas für ihn ändert.
Als er ihren Glauben sah, ist Jesus angerührt. Er ist in dieser Welt des Himmels zu Hause und er begegnet in diesen vier Männern Menschen,  die ihn verstehen und die er versteht.
Sie wollen, dass ihr Freund lebt, aus seiner Starre und Lebensferne erlöst wird. Auf diesen Wunsch geht Jesus ein.
Doch anstatt, dass er nun einfach den Gelähmten aufrichtet und heilt, macht er etwas anderes.
Er spricht einen Satz, der schockiert:
Mein Sohn, deinen Sünden sind dir vergeben.
Hallo? Jesus? Was soll das? Da waren ja schon die Weisheitslehrer damals drauf gekommen, dass Krankheit und Unglück nicht unbedingt die Schuld des einzelnen ist. Wir sagen nur „Hiob“.
Jesus stört sich nicht an der Irritation.
Er bringt ein neues Thema auf:
Nicht Heilung, sondern Heil, geheiltes Leben, geheilte Beziehungen.
Er zwingt damit alle von den schwindelerregenden Höhen, in die sie gerade gelernt haben zu schauen, in schwindelerregende Tiefen.
Denn die Lähmung des Mannes ist das eine.
Seine Trennung vom Leben, von Gott, seine Bitterkeit, seine Sprachlosigkeit und Depression, das ist es, was sein Leben vergiftet.
Das ist es letztlich auch, was seine Freunde nicht aushalten und ändern wollen. Deshalb kommen sie zu Jesus und darin besteht ihr Glaube: Ihr Freund kann am Leben teilnehmen.
Nur dazu muss ihn einer bringen. Sie haben es bisher nicht vermocht.
Ich will eine Lähmung nicht verharmlosen.
Aber viele Menschen haben körperliche Grenzen und sollten dennoch am Leben teilnehmen können und tun es in vielen Fällen auch.
Die Teilnahme am Leben, die Beziehung zu Gott und seiner Welt, das ist es, was für Jesus im Vordergrund steht.
Und wer sich von diesem Leben trennt, lebt in Sünde.
Sünde kommt übrigens vom niederdeutschen Wort „Sund“ und bedeutet „Graben, Abgrund, Trennung“.
Deine Sünden sind dir vergeben.
Jesus streckt dem Mann im Namen Gottes die Hand hinüberstreckt oder besser hinunter, hinunter in einen Abgrund, in eine Verlassenheit, in die sich kaum jemand wagt, in eine Schwärze, der die meisten ausweichen.
Schwindel, weil man in den Himmel gehoben wird, durch Liebe, durch ein tolles Erlebnis, einen neuen Gedanken oder ein  Karussell, das kann man noch positiv sehen.
Schwindel, weil man in den Abgrund blickt und den Sog spürt, der davon ausgeht, ist sehr viel schwerer zu ertragen.
Die anderen sind dazu nicht wirklich bereit.
Das zeigen die Schriftgelehrten.
Im Text heißt es: Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: 7 Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? 8 Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten.
Die Schriftgelehrten kriegen angesichts der Worte Jesu eine Krise.
Schließlich ist es im jüdischen Glauben Gott, der auf die Menschen zugeht und Sünden vergibt und ihnen so die Umkehr ermöglicht.
Wie kommt dieser Jesus dazu, sich an seine Stelle zu setzen?
Der Gelähmte ist für sie Nebensache.
Diese Männer weigern sich ihn wirklich anzusehen.
Sie blicken weder wirklich nach oben, noch nach unten.
Sie bleiben auf dem Boden, der sich nicht bewegt und nehmen in Kauf, was dort geschieht.
Genauso gerührt, wie Jesus von dem Verhalten der Freunde war, genauso wütend und gereizt reagiert er nun auf die deutlich sichtbare Skepsis der Schriftgelehrten: Wenn er einer der Jugendlichen hier wäre, würde er vermutlich sagen:
Ihr seid ja so daneben. Ich zeig euch jetzt, wo der Hammer hängt.
Das sagt Jesus auch, aber mit etwas anderen Worten.
Er sagt: Was denkt ihr solches in euren Herzen? 9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
10 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: 11 Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
12 Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.
Ein Klacks ist das in Jesu Augen anscheinend, einen Gelähmten zu heilen.
Kein Klacks dagegen Beziehungen und ein von Trauer und Schmerz vergiftetes Leben zu heilen.
Die standing ovations der Leute bezieht sich aber nicht auf Letzteres.
Sie applaudieren und erregen sich, weil der Gelähmte gehen kann, ein sichtbarer Beweise für eine Wunderheilung.
So soll Gott sein! Klasse!
Für Jesus ist jedoch das Wesentliche vorher geschehen ist, die Heilung der Beziehung zwischen dem Mann und Gott, die Aufhebung der Lebensferne. Darauf sollen die Menschen ihren Blick richten. Die Heilung ist im Grunde nur Ausdruck der geheilten Beziehung zu Gott und damit zum Leben.
Zwischen den Männern auf dem Dach und den Männern auf dem Boden findet keine wirkliche Begegnung statt.
Jesus ist sozusagen die Verbindung. Er steht, ebenfalls symbolisch, zwischen Himmel und Erde und hat zu beidem, der Weite des Himmels und der Tiefe der Gottverlassenheit eine Verbindung. Er ist die Brücke zwischen beidem und eine Einladung, diese Brücke zu betreten,
indem wir darauf vertrauen, dass das Leben möglich ist.
Indem wir Menschen nicht alleine lassen, sondern den Schwindel der Tiefe ertragen und uns in die Weite des Himmels wagen.
Indem wir uns sagen lassen: Gott streckt dir die Hand entgegen und hebt dich auf.
Soweit zu der Geschichte.
Sind Sie schwindelfrei? Ich hoffe nicht.
Denn der Schwindel, den diese Geschichte meint, ist wichtig.
Er bringt Bewegung in festgefahrene Abstände.
Er entsteht, wenn wir uns dem Leben und den Menschen um uns herum nicht verschließen.
Schwindel ist noch keine echte Bewegung, eher eine Art des Sehens.
Aber er ist ein erster Schritt zur Bewegung.
Eine andere Wahrnehmung der Grenzen, mit denen wir  leben, all das, was wir in unserem Leben und im Leben anderer für unabänderlich halten.
Dass uns schwindelig wird, bedeutet, dass wir diese Grenzen nicht als Geländer nehmen, an dem wir uns einfach festklammern.
Schwindelig wird nur dem, der den Raum dieseits und jenseits der Grenzen nicht übersieht und das Geländer loslässt.
Und egal wohin wir blicken, ob dieser Tage nach Brüssel, wo blasse Menschen nächtelang versuchen zu retten, was noch zu retten ist,
ob nach Thailand  zu den neuesten Überflutungen,
ob in die Türkei
oder einfach auf unsere Straßen, wenn wir mit wachem Blick auf die Menschen schauen, die uns dort begegnen,
immer wieder sehen wir Menschen versinken, buchstäblich im Wasser oder in den Bewegungen des Weltmarktes oder einfach in der Starre oder dem Schmerz ihres Lebens.
Und es ist unsere Aufgabe, da nicht wegzusehen und uns an die Abgrenzung zu klammern, die vielleicht unser Leben aufrecht erhält und in Kauf zu nehmen, dass andere untergehen.
Gott lädt uns ein, auf die Drehscheibe, als die er die Erde konstruiert hat.
Er ist uns nahe,
will, dass wir spüren, dass die Erde sich dreht, sich bewegt, voller Leben ist,
von ihm geschaffen, von seiner Verheißung getragen,
dass wir das am eigenen Leib, im eigenen Leben spüren
und sehen, welche überwältigenden aufrichtenden Folgen das hat.
In Jesu Gegenwart wurden Menschen gesund an Leib und Seele.
Sie haben begonnen, sich zu bewegen, weg von ihren oft traurigen und resignierten oder abgrenzenden Standpunkten.
Durch Jesus haben Menschen die Brücke gesehen, die zum Leben führt und haben sie betreten,
ungeachtet des Schwindels,
ungeachtet der Tatsache, dass es manchmal nicht möglich ist, in sein altes Leben zurückzukehren,
wenn man einmal die Welt von dieser Brücke aus gesehen hat.
Wenn wir Gottesdienst zusammen feiern,
betreten wir diese Brücke, gemeinsam,
heben ein wenig ab, betrachten die Welt von einem anderen Standpunkt.
Und wenn wir Menschen zu taufen wie heute Mila Brusberg und Peer Schönfelder,  dann bedeutet das, sie auf diese Brücke einzuladen,
in diesen Blick für das Leben,
in das Leben diesseits und jenseits der Grenzen.
Wir sehen die tödliche Bewegungslosigkeit vieler Menschen, vieler Länder, auch unseres Lebens und beten darum, dass wir den Mut haben auf Häuser zu klettern, Dächer abzudecken, und auf Jesu Stimme zu hören, die uns immer wieder sagt:
Steh auf. Geh auf die Brücke und sieh hin.
Amen




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