Samstag, 15. Oktober 2011

Predigt zu Mk 9, 14-29, 17. Sonntag nach Trinitatis 2011


Nach einer Konferfahrt etwas im Halbschlaf und mithilfe der Predigtstudien III.2 2004/05 aus dem Kopf gedreht. 

Mk 9, 14-29 Die Heilung des besessenen Knaben

Gnade sei mit euch und Friede von dem der da ist und der da war und der da kommt.

Es ist schwer, ein Jünger zu sein.
Das werden die Jünger Jesu deutlich empfunden haben, dort auf dem Marktplatz eines Dorfes in der Nähe von Cäserea.
Schwer und oft auch frustrierend.
Erst geht Jesus auf den Berg mit den Insidern Petrus, Johannes und Jakobus und hat mit ihnen eine sensationelle Begegnung der dritten Art, mit Mose und Elia und vor allem mit Gott.
Das hat nicht nur Jesus, sondern auch die anderen drei berührt, verwandelt, verklärt im Sinne von „für die Gegenwart Gottes öffnet“.
Und die anderen?
Sie bleiben auf dem Marktplatz.
Antworten auf die dümmsten Fragen.
Setzen sich dem Spott und dem Misstrauen aus.
Müssen den Schriftgelehrten stand halten, die sie mit Bibel und Mischna in die Enge treiben.
Wer ist dieser Jesus? Kann er wirklich heilen? Ja? Wie macht er das?
Was meint er mit Reich Gottes? Auf welche Stellen bezieht er sich?
Hat er noch was anderes im Kopf als Jesaja?
Bekommt er Geld für seine Predigten? Ist er verheiratet?
Jesus und die anderen sind weit weg. Aufgestiegen im wahrsten Sinne des Wortes.
Und sie waten hier im Morast des  Alltags, der misstrauischen Menge und der bedürftigen Menschen.
Denn jetzt kommt auch noch dieser Vater mit diesem entrückten, blassen Kind.
Und er mutet ihnen zu, dieses Kind von seinem Dämon zu befreien.
Wer je einen epileptischen Anfall gesehen hat, wird, glaube ich, nicht über diese Beschreibung der Krankheit lächeln.
Ein Dämon, ein fremder Wille schüttelt den Jungen immer wieder und lässt ihn selber verschwinden, erstarren, sprachlos werden. Harte Aufgabe.
Die Jünger mühen sich ab.
Was genau sie tun, wäre interessant gewesen, wird leider nicht gesagt.
Aber,  wie aus dem Ende der Geschichte deutlich wird: Sie haben nicht gebetet.
Sie werden sich bemüht haben, dem Vater und dem Kind Zuwendung zu geben, ihnen zu zeigen, dass sie das Leiden ernst nehmen. Sie werden es mit Händeauflegen versucht haben.
Sie werden vielleicht die Sache mit Speichel versucht haben.
Die Menge hat sich um sie herum versammelt und sieht zu.
Da kann man sich nicht einfach hinstellen und hilflos die Hände heben.
Die ersten Kommentare kommen schon.
Die Jünger gereizt und überfordert, wie sie sind, geben Bissiges zurück.
Da teilt sich die Menge und Jesus und die anderen drei kommen.
Irgendwie schimmernd.
Irgendwie anders.
Die Menge verstummt.
Jesus hat sich noch nicht ganz erholt von seinem Erlebnis auf dem Berg.
Der Streit trifft ihn mit voller Wucht.
Eine Bruchlandung in der Wirklichkeit, die einen Wutausbruch zur Folge hat.
Jesus hört von dem Vater, worum es geht: Deine Jünger konnten es nicht.
Er spürt die Stimmung, sieht in die verkniffenen Gesichter der Jünger,
in die angriffslustigen  der Schriftgelehrten,
in die erwartungsvollen und spöttischen und traurigen und hoffnungslosen Gesichter der Menschen,
in das Gesicht des verzweifelten Vaters, in das des Jungen, der nicht gesehen wird, der nur als Kranker auftritt und bricht los:
„Ihr ungläubiges Geschlecht!!“
Was soviel bedeutet wie: Ihr seid ja so zu. So unfähig euch Gott zu öffnen.
Ihr seid so gar nicht wie ich und ich muss mit euch leben.
Ich weiß nicht wie ich das aushalten soll.
Ein Schlag ins Gesicht.
Für die Jünger, die sich ja nun wirklich bemüht haben mit ihm Schritt zu halten die ganze Zeit, für die Schriftgelehrten, für all die anderen.
Die Stimmung wandelt sich.
Plötzlich stehen alle auf einer Seite und nur Jesus alleine auf der anderen.
Was macht ihn so besonders? Was bildet der sich ein?
Welches Recht hat er so loszupoltern?
Jesus führt es ihnen umgehend vor:
Er lässt sich den Jungen bringen, hört sich vom Vater seine Krankengeschichte an.
Er hört das zögernde „Wenn du es kannst..“ des Vaters, der schon Ärzte aufgesucht hat, seine Hoffnung auf die Jünger dieses besonderen Rabbis gesetzt hatte und immer wieder gescheitert ist und er ist schon wieder  ärgerlich:
„Wenn ich es kann, was heißt hier 'wenn?!'
Wer glaubt, dem ist alles möglich, klar?“
Das ist dem Vater sofort klar. Auch dass er das nicht kann, nach allem, was er erlebt hat seit der Geburt des Kindes.
Er kann es nicht. Er kann nicht wirklich glauben, dass sich etwas ändern lässt.
Er kann Geld ausgeben, er kann den Jungen von Heiler zu Heiler schleifen, er kann seine ganze Kraft dafür einsetzen um ihn zu beschützen und am Leben zu halten.
Er kann und tut viel und er tut es ja auch in der Hoffnung, aus dem halben Glauben heraus, vielleicht, vielleicht wird irgendwann ja Heilung kommen.
Er kann diese Hoffnung nicht aufgeben und er kann sie nicht wirklich ernst nehmen und bleibt dazwischen stecken.
So glauben, dass es jetzt geschieht, dass Jesus das kann, das schafft er nicht. 
Er gibt auf.
Und er weiß sich nicht anders zu helfen, als dagegen anzuschreien, weil er den Jungen, den er liebt nicht aufgeben kann:
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“
Und er hat Glück.
Das war genau der richtige Satz.
Das war der Satz, der die Maschen des dichten Netzes der Hoffnungslosig­keit und des Realismus ein wenig geweitet hat, mit dem er sich umgeben hat.
Das war ein Moment, der ihn mit Jesus auf eine Stufe gestellt hat, ein Moment der Offenheit, der erhobenen Hände:
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“
Und Jesus treibt daraufhin den Dämon aus, hebt den erschöpften Jungen auf und entlässt beide ins Leben.
„Warum ging das? Warum geschah das nicht bei uns?“, fragen die Jünger.
„Warum geschieht das nicht bei uns?“, fragen auch wir.
Warum trotz aller besten Absichten, trotz aller Mühen, trotz allen Einsatzes, auch trotz allen Betens, warum kommt es so häufig zu dieser verkniffenen, frustrierten Stimmung.
Auch hier bei uns in der Gemeinde?
Warum können wir Menschen zwar begleiten und ihnen zuhören, aber ihr Leiden nicht beenden, ihre Probleme nicht lösen und sie nicht mit sich selbst und anderen versöhnen.
Warum bleiben auch wir in unserem Leben immer wieder stecken und können nicht weiter?
Jesus gibt eine einfache Antwort: Da muss man beten.
Und deutlich ist, dass er meint: Da muss man beten wie anscheinend nur ich es kann.

Was ist das Besondere an Jesus, das ihn von uns und allen anderen unterscheidet?
Dass Gott sich entschlossen hat, ihn zu einem Gottessohn zu erheben?
Ihn zu wählen und von seinem Weg abzubringen und ganz auf seinen Weg einzuschwören und ihm Fähigkeiten verleiht, die keiner hat? 
Ich weigere mich ehrlich gesagt, so etwas zu glauben.
Gott nimmt einen Menschen, merzt alle Individuelle aus bis nur noch das Schema eines Menschen übrig ist,
ein Gefäß, in das er seinen Geist und seine Macht strömen lässt,
eine Marionette, die er am Band in die Katastrophe führt, um der Welt seine Liebe zu demonstrieren?
Nein.
Jesus war ein Mensch, ein besonderer Mensch, mit einer besonderen Gabe.
Diese Gabe war neben möglichen ärztlichen Fähigkeiten und einem klaren, liebevollen Geist vor allem seine Offenheit, sein Glaube, dass Gott da ist. Jesus konnte glauben, wie keiner von uns es vermag, er konnte beten.
Beten ist hier gemeint als ein gewaltiger Dammbruch, ein vollkommen offenes: Dein Wille geschehe.
In Jesus konnte der Wille Gottes ungehindert Gestalt gewinnen.
Und Gott ist Jesus daher entgegengekommen, wie sonst kaum jemandem, aus christlicher Sicht, wie sonst keinem.  
Bei Gott ist kein Ding unmöglich.
Wer sich ihm und seiner schöpferischen Kraft ganz öffnet, der kann heilen, der kann fliegen, der kann Berge versetzen, der kann Dinge tun, für die wir nur das Wort „Wunder“ kennen.
Für jemanden, der diese Offenheit kennt und lebt, ist es eben manchmal unerträglich, mit der Verschlossenheit und Angst der anderen zu leben.
Und dem Menschen Jesus muss man daher auch seinen Wutausbruch auf dem Marktplatz und alle weiteren, von der die Bibel berichtet, nachsehen.
Doch wir können es drehen und wenden, wie wir wollen:
Wir sind nicht Jesus und wir werden es auch niemals sein.
Wir sind häufig wie die Jünger, die im ehrlichen Bemühen stecken bleiben. Wir sind wie der Vater, der merkt, wie er zwischen Unglauben und Glauben aufgerieben wird.
Wir leben auf der Grenze zwischen Glauben und verzweifeltem Realismus und tun unser Bestes uns dort zu halten.
Trotz der verzeihlichen Wut Jesu über das Unvermögen seiner Jünger und auch unseres:
Er wie auch Gott müssen damit leben, dass es so ist.
Und können dankbar sein, dass es immer noch und immer wieder Menschen gibt, die es auf dieser Grenze aushalten.
Die weder dem hoffnungslosen Realismus verfallen noch ihr Heil im blinden Glauben an die Allmacht Gottes suchen und alles wegdrücken, was dem widerspricht.
Wir leben damit, dass Dinge sich zum Guten wenden und wenden lassen und manche auch überhaupt nicht.
Wir erleben, dass Gott sich manchmal in offenen Momenten zwischen uns drängt und unsere Herzen voll Liebe füllt und Leben ermöglicht und dann wieder auch nicht.
Wir erleben, dass Gott sich theologisch so oft daneben benimmt und eben nicht verlässlich und klar handelt,
sondern fern wirkt und nicht spürbar und uns auf der Grenze leben lässt,
so gut wir es eben können,
ohne anscheinend diesem Zustand in absehbarer Zeit ein Ende setzen zu wollen.
Paulus, auch ein Epileptiker, ist ein gutes Beispiel für dieses Leben auf der Grenze.
Dreimal hat er zu Gott gebetet, er möge ihn von seiner Krankheit heilen. Und es ist nicht geschehen.
Und er ist nun wirklich auch etwas Besonderes gewesen.
Dafür aber hat Gott ihm trotz der Krankheit die Klarheit seiner Gedanken erhalten und Paulus hat noch vor seinem Tod durch seine Gemeindegründungen dafür gesorgt, dass die Kirche in der westlichen Welt salonfähig werden konnte.  
Gott wandert auf seine Art mit uns auf den Grenzen.

Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Dieser Satz kann uns vor der Vermessenheit bewahren, Gott lenken zu wollen, andere auf Wege zwingen wollen, zu denen sie nicht bereit sind.
Er hält uns unten auf dem Boden, der anstrengend ist und frustrierend, immer wieder.
Aber ein Mensch, der diesen Satz sagt, hört nicht auf, Gott zu rufen,
lässt nicht ab von der Hoffnung, dass Gott seine Kraft wirken lässt, überraschend und auf überraschende Weise mit merkwürdigen Ergebnissen, auf die wir von selbst nicht kommen.
Wir bringen die Offenheit Jesu nicht mit.
Wir brauchen Hilfe, immer wieder.
Wir können in den Gemeinden oft nicht so, wie wir wollen.
Wir verknoten uns angesichts der Wünsche und Anfragen, wozu wir eigentlich da sind.
Und die frustrierte, wütende Stimmung der Jünger, die kennen wir auch.
Aber wir kennen auch anderes.
Wir beten immer wieder, bemühen uns um Offenheit, die in einer liebevollen Welt gebraucht wird und begegnen dort auch manchmal dem Trost Gottes und seiner Vergewisserung.
Wir erleben Begegnungen, die für alle heilsam sind.
Wir erleben überraschende Momente wie auf der Konferfahrt letzte Woche, da drängt sich Gott plötzlich dazwischen, wenn alle „Hit the road Jack“ schmettern und ein geniales Solo von Frank Vöhler die Herzen höher schlagen lässt und einen  Moment lang die Zeit stehen bleibt, weil alle begeistert singen, alle offen sind.
Alle wissen, es geht um mehr als ein nettes Lied zu trällern.
Es geht darum, dass wir alle zusammen diesen nicht wiederholbaren Augenblick als pures Leben erleben, als Gemeinschaft, ich wage sogar zu sagen als Liebe, zumindest als liebevolle Offenheit.
Vielleicht nicht alle so wie ich, aber alle haben dazu beigetragen.
Diese Offenheit lässt sich nicht produzieren, aber so ein Erlebnis wirkt nach und wenn Sie mich nun fragen, warum das bei dem Lied passiert und nicht bei einem christlichen:
Keine Ahnung. Gottes Musikgeschmack ist seine Sache.

Ich glaube, hilf meinem Unglauben.
Wir leben auf der Grenze, tragen unsere Widersprüche mit uns herum, unsere Altkleidersammlung von Rollen und Erfahrungen, die immer wieder zum Vorschein kommen.
Wir brauchen Hilfe immer wieder.
Wir begegnen Menschen, die Hilfe brauchen und werden uns bemühen, ihnen zu helfen.
Wir können Gott bitten, bei uns zu sein und uns Kraft zu schenken.
Und er wird immer da sein.
Und er wird uns helfen, auch wenn wir es nicht merken, weil wir eine ungläubige Generation sind, die die Geschicke der Welt und des Lebens immer wieder auf verheerende Weise in die Hände nimmt und nicht mit Gott redet.
Gott redet mit uns, wie er mit Jesus geredet hat.
Deshalb hat er keine Marionette kreiert, sondern einen Menschen berufen uns den Weg zu zeigen und will auch, dass wir uns nicht als solche verhalten.
Jesu Leben ist der  leidenschaftliche, ja wütende Appell Gottes an uns, dass wir daran glauben, dass wir heil werden können.
Gott hat uns gut gemacht.
Seine Liebe wohnt in uns.
Es ist ein Appell, auf das Stärkende Gottes in uns zu schauen und daraus dann zu handeln.
„Alles ist möglich dem, der da glaubt.“
Was für Möglichkeiten öffnet uns das!
Wir können uns versöhnen, wir können die Schule schaffen, wir bekommen Arbeit, wir werden zum Frieden und sozialen Miteinander in der Stadt beitragen, den Frieden in der Stadt und in der Welt voranbringen.
Und immer redet Gott mit uns und sieht unsere Grenzen und unsere Zerrissenheit mit einer Engelsgeduld an und wartet auf die Momente der Offenheit, in denen wir seine Stimme hören und ihr vertrauen:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst.
Deinen Namen kenne ich, in und auswendig, du gehörst zu mir.
Amen

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