Freitag, 19. Oktober 2012

Predigt zu 1 Kor 7, 29-31 20. Trinitatis 2012

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29 Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht;
30 und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht;
31 und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

Die Zeit ist kurz.
Paulus braucht das nicht besonders zu betonen.
Jedenfalls nicht mir gegenüber.
Die Zeit ist kurz.
Was ist nötig, was nicht?
Ich lebe immer mit diesem Satz.
Ich lebe immer mit dieser Frage.
Und ich finde, dass sowohl der Satz als auch die Frage lähmen.
Man braucht nämlich Zeit, um sich Gedanken über die Zeit zu machen,
und womit man sie füllt und womit nicht.
Man braucht Zeit und Raum um das Nötige von dem Unnötigen zu unterscheiden.
Sonst reagiert man einfach auf das, was vor Augen ist
und vergisst anderes, auch Wichtiges.
In der Welt, so hat es den Anschein, gibt es diese Zeit, diesen Raum  nicht oder kaum.
In der Welt ist die Zeit in Stunden geschnürt.
Die Schule braucht Zeit, 7-8 Stunden oder mehr am Tag.
Die Arbeit braucht Zeit, meistens mehr als 8 Stunden am Tag.
Der Haushalt braucht Zeit, das Einkaufen, der Garten.
Kinder brauchen Zeit, bräuchten viel mehr.
Der Partner, die Partnerin braucht Zeit und darf sich meistens hinten anstellen.
Ich brauche Zeit.
Für mich?
Wer mit der knappen Zeit lebt,
mit in Stunden geschnürten Aufgaben, die aus ihren Nähten platzen,
der erlebt, dass „Zeit für mich“ ein grauer Fleck ist,
den man besser unberührt lässt.
Ich meine mit „Zeit für mich“ nicht die lethargischen Stunden am Ende eines langen Tages,
in denen man erschöpft in der Ecke hängt und einen Film sieht oder mit dem Computer rumspielt.
Zeit für mich.
In diesem grauen Fleck, den wir doch selten aufsuchen,
steckt eine Frage, die mich auffordert den Blick auf das zu richten,
was mein Leben wirklich ausmacht.
In diesem Fleck wartet eine Stimme
und die redet ungefähr so wie der Wochenspruch dieser Woche des Propheten Micha: 
Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir fordert,
nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
Diese Forderung kümmert sich nicht um die Zeit,
kümmert sich nicht um Stunden.
Was gut ist und was Gott fordert, das ist immer gut,
das fordert er immer, in jeder Stunde.
In allem, was wir tun, sollen wir seine Weisung im Kopf haben,
Liebe üben durch das, was wir tun,
in der Liebe bleiben, wie Johannes es ausdrückt.
Wir sollen demütig sein vor Gott
und nie vergessen, dass ich nicht alles tun kann und muss.
Ich bin ein Teil der Gemeinschaft und lebe mit und von anderen
und weiß, dass Gott alles in seiner Hand hält, nicht ich.
Denn er, und niemand sonst,
sorgt dafür, wie wir vorhin gehört haben,
dass auf der Erde nicht aufhören Saat und Ernte,
Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
Gott steckt im Wechsel der Zeiten,
aber er liefert sich der Zeit nicht aus.
Er hält die Zeit in seiner Hand.
Nur, das vergessen wir immer wieder.

Die Zeit ist kurz.
Und wird nicht länger.
Die Schnüre der gebundenen Stunden lassen sich selten einfach kappen.
Wer will schon aussteigen?
Wer lebt schon, wie Paulus es ausdrückt,
mit dem ständigen Wissen, dass das Wesen dieser Welt vergeht?
Wer zuckt angesichts dessen schon mit den Schultern und lebt mit seinem Partner, als hätte er keinen?
„Wer bist du schon, angesichts des Weltendes?“
Ich weiß nicht, ob diese Frage so beziehungsfördernd ist.
Und wer weint mit einem Achselzucken,
als seien die eigenen Schmerzen und die Trauer nicht wichtig?
Wer freut sich nicht,
wenn man endlich einmal von Herzen lachen
und in der Freude des Augenblicks versinken kann?
Und die möchte ich unter uns sehen,
die sich beim Einkaufen ständig mit einem schlechten Gewissen herumplagen wollen,
weil die neue Jeans endlich so richtig passt.

Die Zeit ist kurz.
Auch ein Paulus hat seine Grenzen.
Das Glück einer liebevollen Beziehung kann er nicht schätzen,
weil er es nicht kennt.
Besitz hatte er kaum
und er brauchte seine ganze Kraft,
um den Gemeinden das Evangelium zu verkünden,
solange noch Zeit ist.
Da waren persönliche Leiden und Freuden zweitrangig
und sein Verständnis dafür begrenzt.

Aber Paulus ist kein Ignorant,
er ist auch Seelsorger.
Er lebt wie die Christen damals in der Erwartung,
dass Jesus bald wieder kommt,
dass das Ende der Welt in dieser Form nahe ist,
Die Welt wird gerichtet werden, neu beurteilt.
Gerechtigkeit wird der Maßstab sein
und das wird das Gefüge der Macht
und auch den Alltag, die Beziehungen der Menschen
gehörig durcheinanderwerfen.
Daraufhin leben wir , sagt Paulus,
wir sehen dem mit Freude und nicht mit Angst entgegen,
weil wir schon jetzt uns nicht mehr an Altes klammern und bereiten damit Gott den Weg.
Schön und gut.
Aber Paulus sieht auch,
dass das Leben der Menschen nicht einfach aufzulösen ist.
Menschen sind verheiratet, haben Kinder, müssen essen, haben Sorgen.
Da kann man nicht einfach sagen:
Das ist doch nicht so wichtig.
Wie aber soll das Wichtige da Raum bekommen?
Wie kann Paulus das, was ihm am Herzen liegt,
dennoch den anderen vermitteln, schmackhaft machen?
Die Jahre, die seit dem Tod Jesu vergangen sind, werden immer mehr.
Paulus ahnt vielleicht schon, dass es so schnell dann doch nicht geht.
Die Zeit ist kurz.
Er möchte niemanden mit diesem Satz in die Weltflucht oder in die Depression jagen.
Er möchte ihnen klarmachen, dass sie der Zeit, in der sie leben,
nicht ausgeliefert sind,
Er möchte befreien, befreien von der Sorge.
Und so lautet der nächste Satz nach unserem Predigttext:
„Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid.“
Ich möchte dass ihr frei seid, heißt das.
Ihr sollt verantwortungsbewusst leben,
aber euch nicht knebeln lassen und andere nicht knebeln.
Paulus sieht die Kraft, die Beziehungen und das Leben im Alltag kostet und sagt:
Wenn ihr denn verheiratet seid oder meint heiraten zu müssen, nun gut.
Dann könnt ihr weniger Gott dienen,
wenn ihr verantwortlich bleiben wollt eurer Familie gegenüber.
Das ist dann so.
Aber ganz ausweichen solltet ihr Gott nicht.
Und Paulus stößt sie in den grauen Fleck, in dem die Zeit anders tickt.
Er will zumindest, dass sie das wahrnehmen.
Die Zeit der Welt ist nicht die Zeit, in der Gott lebt.
Er kennt sie, er sorgt für ihren Fortgang,
aber er liefert sich ihr nicht aus.  
Gott ist und hat ein anderes Wesen, das sich vom Frieden, vom Schalom nicht abbringen lässt,
auch nicht als Zukunft für diese Welt.
Wer sich außerhalb der Stundeneinteilung des Alltags stellt,
immer wieder,
sei es in einem Gottesdienst,
sei es nur für Minuten am Tag,
der nimmt wieder wahr,
dass Gott von diesem Frieden redet und mich einlädt,
die Welt so zu betrachten,
als Raum für einzigartige, vielfältige Lebewesen,
die alle zu ihrem Recht kommen sollen.

Die Weisung Gottes ist ein Ruf in die Freiheit.
Mir wird die Freiheit nahegelegt, das zu tun,
was mir im Gegenüber zu Gott einfällt.
Mir wird klar, dass ich ein Kind der Freiheit bin.
Und alle um mich herum ebenfalls, Kinder der Freiheit.
Auch sie haben von Gott die Freiheit geschenkt bekommen.
Denn seine Weisung zum Leben ist ein Ruf in die Freiheit,
die Freiheit, das Gute zu tun,
immer, ohne Rücksicht auf die Stunden, die ganz gebunden scheinen
und es letztlich doch nicht sind.
Ich bin frei, dem Obdachlosen vor Nahkauf 2 Euro zu geben statt wie sonst nur 1 und nehme mir die Freiheit, nicht misstrauisch über Alkohol nachzudenken, sondern zu sagen: Wohl bekomm’s.
Ich bin frei mit ihm ein paar Worte zu reden,
und ihn wie die anderen zu behandeln und zu sehen,
die mir aus der Gemeinde dort über den Weg laufen,
auch wenn die sich dafür bedanken würden mit so jemandem auf eine Stufe gestellt zu werden.
Ich nehme mir die Freiheit, einen freien Sonntag mit meiner Kollegin an einer Friedensprozession teilzunehmen,
auch wenn meine Familie diese freie Zeit bräuchte.
Ich nehme mir die Freiheit, an einem Wochentag meine mehr oder weniger kranke Tochter zwischen den Terminen aufzusuchen
und dann nicht mails zu bearbeiten und nicht wie so oft nur körperlich anwesend zu sein, sondern mit ihr rummycup zu spielen.
Ich nehme mir viel zu wenige dieser Freiheiten heraus.
Wie viele Freiheiten nehmen Sie sich heraus?
Wie oft sehen Sie nur Enge und Verpflichtungen und nehmen den Raum nicht wahr, den Gott einem jedem von uns schenkt,
das Gute zu tun, der Liebe zu folgen, sich in die Hand Gottes zu geben?
Aus Gottes Sicht bleibt immer genügend Raum, um auf ihn zu blicken.
Immer kann ich mir die Zeit nehmen einen Schritt zurücktreten
und all die Möglichkeiten sehen, die mir offen stehen,
in Gottes Sinn zu leben.
In dem grauen Fleck, der häufig vereinsamt,
erlaubt Gott der Zeit stillzustehen und erlaubt damit uns, zu sehen, an ihn zu denken.
Er schenkt uns die Zeit, die wir meinen nicht zu haben,
dass wir uns immer wieder lösen von dem,
was unabänderlich scheint
und damit dem Frieden in der Welt eine Chance geben.

Denn Kinder der Freiheit kleben nicht am Besitz.
Sie nehmen auch ihren Partner, ihre Partnerin nicht in Besitz.
Sie betrachten immer wieder voller Verwunderung,
wie manche Menschen meinen über die Zeit anderer und ihren Bewegungsraum entscheiden zu dürfen.
Kinder der Freiheit sehen den weiten Raum, auf den Gott uns stellt und gehen leichten Fußes.
Sie kleben nicht am Bestehenden, rechnen mit dem Besten, geben dem Bösen nicht recht, egal wie sehr es die Zeit bestimmt.
Kinder der Freiheit nehmen ihre Zeit ganz bewusst aus Gottes  Hand und wissen um ihre Kostbarkeit.
Die Zeit ist kurz.
Deshalb ist jeder Moment kostbar, jeder Moment eine Chance, Gott zu begegnen und die Welt mit neuen Augen zu sehen.
Die Zeit ist kurz.
Viel ist zu tun.
Die Stunden des kommenden Tages sind häufig gefüllt,
bevor der Tag überhaupt begonnen hat.
Das ist genau die richtige Zeit,
uns gegenseitig um Urlaub zu bitten,
immer wieder, jeden Tag, damit wir geboren werden
wie Pablo Neruda, der große chilenische Dichter,
es in folgendem Gedicht ausdrückt.

Bitte um Ruhe
Nun lasse man mich in Ruhe.
Nun mag man an mein Fernsein sich gewöhnen.
Ich will meine Augen schließen.
Fünf Dinge nur will ich,
fünf eingewurzelte Vorlieben.
Eine ist die unendliche Liebe.
Das zweite ist, den Herbst anschaun.
Ich kann, ohne dass Blätter
treiben und zur Erde kehren, nicht sein.
Das dritte ist der bittere Winter,
der Regen, den ich geliebt, des Feuers
Zärtlichkeit inmitten wilder Kälte.
An vierter Stelle der Sommer,
prall wie eine Wassermelone.
Das fünfte sind deine Augen.
Mathilde, Inniggeliebte,
ich mag ohne deine Augen nicht schlafen,
mag nicht leben ohne deinen Blick:
Ich tausche den Frühling ein,
damit du mich anblickst fort und fort.
Freunde, das ist alles, was ich will.
Es ist nichts und doch fast alles.
Nun könnt ihr gehen, wenn ihr wollt.
Ich werde solange gelebt haben, dass ihr
mich zwangsläufig vergessen müsst eines Tags
und mich auslöschen auf der Schiefertafel:
mein Herz war unendlich.
Doch wenn ich Ruhe verlange,
glaubt nicht, dass ich sterben will:
ganz das Gegenteil widerfährt mir:
ich werde anfangen zu leben.
Ich bin und bleibe da.
Jenes wird nicht geschehen, sondern in mir
wird Getreide wachsen,
zuerst das Samenkorn, das die Erde
durchbricht, um das Licht zu erblicken,
die Mutter Erde aber ist dunkel:
und dunkel bin ich in meinem Innern:
bin wie ein Brunnen, in dessen Wasser
die Nacht ihre Sterne belässt
und allein bleibt auf dem Feld.
Soviel wie ich lebte, soviel will ich
nochmals leben, darum geht’s.
Nie zuvor fühlte ich so im Einklang mich,
nie zuvor hatte ich Küsse soviel.
Jetzt, wie immer, ist frühe Stunde.
Das Licht fliegt mit seinen Bienen.
Lasst mich allein mit dem Tag.
Gebt mir Urlaub, dass ich geboren werde.
(Pablo Neruda, Viele sind wir)

Geben wir Gott unsere Zeit vertrauensvoll in die Hände
und uns gegenseitig immer wieder Urlaub,
dass jeder von uns immer wieder geboren werde und hören kann
, was gut ist und was Gott von mir fordert,
dass ich mir die Freiheit nehme Gottes Wort zu halten und Liebe zu üben und meine Zeit in Gottes Hand weiß.

Amen

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