Samstag, 16. November 2013

Predigt zu Jer 8, 4-7. Vorletzter Sonntag/Volkstrauertag 2013

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Da kommt einer zum Arzt.
Herzrasen, Schlafstörungen. Es geht ihm schlecht.
Der Arzt stellt seine Diagnose: Ihre Gesundheit steht auf der Kippe.
So kann es nicht weitergehen.
Ich weiß, sagt der Patient müde, aber ich weiß nicht, wie ich da rauskommen soll.
Die Arbeit, die Familie. Ich habe Verpflichtungen. Ich muss weitermachen.
Der Arzt schüttelt den Kopf:
Wenn Sie nicht anhalten können, dann kann ich Ihnen nicht helfen.

Da kommt ein 16-Jähriger zu der Sprechstunde des Sozialarbeiters.
Du schon wieder, sagt der müde.
Wieder Gewalt, wieder im Zusammenhang mit Alkohol.
Siehst du nicht, dass du dir dein Leben kaputt machst?
Der Junge zuckt die Schultern.
Die haben mich wieder reingezogen, sagt er.
Kannst du nicht einfach anhalten und nachdenken, bevor du dich auf so etwas einlässt?, fragt der Sozialarbeiter eindringlich.
„Was weißt du schon?“, denkt der Junge und hebt wieder gleichgültig die Schultern.

Da schaut einer auf sein krankes Volk.
Sein Land ist zerstört und besetzt worden durch eine Großmacht und doch träumt das Volk von Reichtum und Macht.
Und unterdrückt die Armen in ihren Reihen
und feiert die Gewalt und die andere Großmacht, von der sie sich Rettung erhoffen.
Umsonst, wie sich herausstellen wird.
Ihnen wurde einst die Kostbarkeit von Gottes Recht übergeben, um es zu leben. Aber das haben sie vergessen.
Keiner schaut mehr nach rechts und links.
Sie haben eine Richtung eingeschlagen, die ins Verderben führen muss.
 Keiner hält mehr an und denkt nach.
Der Prophet Jeremia schaut hilflos auf sein krankes Volk Israel und wendet sich an seinen Arzt, an Gott.
Kannst du nichts machen?, fragt er.
Heile sie!
Wie kann ich das, erwidert Gott, wenn keiner zuhört.
Das kannst du ihnen sagen und er fährt fort, wie es beim Propheten Jeremia im 8. Kapitel nachzulesen ist:

Sprich zu ihnen: So spricht Gott:
Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde?
Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
Und warum verharrt dann sie – die Stadt Jerusalem und dieses Volk – abgewandt in dauernder Abkehr?
Warum halten die Menschen  fest an der Täuschung und weigern sich umzukehren?
Ich habe aufmerksam zugehört: Unrechtes sprechen sie.
Niemand bereut sein böses Tun etwa mit den Worten: Was hab ich doch getan?!
Sie alle laufen unumkehrbar ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
Dabei kennt doch selbst der Storch unter dem Himmel seine festen Zeiten, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten ihr Kommen pünktlich ein.
Aber mein Volk will von den Rechtsordnungen ihres Gottes nichts wissen.

Anhalten, nachdenken. Und umkehren.
Warum ist das so schwer?
Warum laufen und laufen wir so häufig einfach weiter,
obwohl wir doch eigentlich wissen, dass uns das kaputt macht,
obwohl, wie Paulus sagt, doch eigentlich die ganze Schöpfung seufzt und sich nach Erlösung und Frieden sehnt?
Warum stehen wir uns selbst in unseren privaten Streitigkeiten so häufig im Weg und hören auf die aufsteigende Wut und nicht auf die Stimme der Vernunft?
Menschen rennen immer wieder ins Verderben,
blind und zielgerichtet zugleich.
Daran denken wir besonders an Tagen wie diesem,
dem vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, auch Volkstrauertag genannt.
In zwei Weltkriegen rannten Menschen in ihr Verderben,
wie ein Hengst in die Schlacht,
folgten, wie im II. Weltkrieg, blind dem falschen Führer,
erfroren und verreckten elend in den Schneewüsten Russlands
und hörten nicht auf,
führten noch fast 3 lange Jahre weiter Krieg.
Und begangen oder duldeten himmelschreiendes Unrecht in ihren eigenen Reihen,
mordeten und quälten jüdische und andersdenkende Menschen ohne Sinn und Verstand, immer weiter, immer weiter. 
Und doch kannten sie die Regeln des Lebens und der Gerechtigkeit,
von Kindheit an.

Der Mensch, ein schwieriger Patient. Schon zu Jeremias Zeiten.
Und heute sieht die Welt nicht besser aus,
nicht die Menschheit, von der Natur ganz zu schweigen.
Warum leben wir so?  Warum kehren wir nicht um? Wie kann das gehen?

Ich saß da gestern mit dieser Frage und kam nicht weiter
und dachte, dass es vielleicht sinnvoll wäre,
mit dieser Frage doch einmal in die Sprechstunde dieses Arztes zu gehen,
an den Jeremia sich wegen der chronischen Krankheit seines Volkes wendet
und ihn mit meinen Fragen zu konfrontieren.
Schließlich ist Gott ja maßgeblich an dem Leben hier beteiligt, dachte ich. 
Es wird mal wieder Zeit für einen Hinweis von ihm.
Ich gehe also zum Kaiserdamm,
wo Gott gestern kurzfristig seine Praxis hin verlegt hatte und komme in das Sprechzimmer.
Es ist nüchtern eingerichtet, helles Licht, einfache Holzmöbel.
An den Wänden hängen Bilder und Sprüche,
alles bekannt,
Mose hängt da mit den 10 Geboten in der Hand,
Jesus auch, aufmunternd lächelnd und isst und trinkt in Gesellschaft mit seltsamen Männern und Frauen.
Mohammed hängt da, als er gerade Frieden stiftet zwischen Mekka und Medina, Buddha, Gandhi, Franz von Assisi, sogar Bonhoeffer.
Gott scheint es nicht so genau zu nehmen mit der Religion, denke ich noch,
da erklingt ein strenges „Und?“ an mein Ohr
und ich sehe einen Arzt in weißem Kittel hinter dem Schreibtisch sitzen. Irgendwie Gott, irgendwie auch nicht.
Genauer kann ich es nicht sagen.
„Ja“, sage ich und komme näher und setze mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
„Du weißt doch, worum es geht, oder?“
„Ja“, sagt der Arzt, „und ich staune immer wieder über euch.
Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde?
Das ist doch eigentlich normal.
Jedes Lebewesen, das am Boden liegt, möchte wieder auf die Beine kommen. Wer kommt schon auf die irrwitzige Idee sich gegenseitig immer wieder ein Bein zu stellen?
Wozu soll das gut sein?“
Gott blättert in seinen Karteikarten und schüttelt immer wieder den Kopf.
„Wenn ich mir eure Krankheitsgeschichte anschaue, fällt mir nichts mehr ein.
Habt ihr denn nicht den Wunsch, dass alles friedlich wird und gerecht
oder warum lauft ihr seit tausenden von Jahren in jeden Krieg, der sich euch bietet?“
„Das wollte ich dich eigentlich fragen“, sage ich ein bisschen beleidigt,
„du hast uns schließlich geschaffen.
Vielleicht sind wir ein Konstruktionsfehler von dir?
Entstanden aus der falschen Sorte Affen,
der einzigen, die außer uns zu blindem Mord an den eigenen Artgenossen fähig ist?
Warum hast du uns nicht friedlich und sanftmütig hingekriegt?“
„Da hört sich doch alles auf“, erwidert Gott gereizt,
„wenn ich euch nur das Lachen und Freude und Liebe und Geduld gegeben hätte, wärt ihr hilflos und wehrlos und schwach geblieben.
Also habe ich gedacht: Gebe ich ihnen auch das  Weinen und Trauer und Hass und Ungeduld.
Dann sind sie zwar auch gefährlich, aber ich werde auf sie achten, sie lenken und lehren.“ (nach Jutta Richter , Der Hund mit dem gelben Herzen)
Gott seufzt einmal tief auf:
„Konnte ich ahnen, wie schwer das wird?
Konnte ich ahnen, dass ihr zu den Herren der Welt mutiert,
die die ganze Welt unübersehbar im Griff haben?
Schau dir meine Pflanzen an, meine Meere, ein Schweinestall.
Konnte ich ahnen, dass ihr eure Intelligenz, eure Philosophie nicht anwendet, sondern eure Klugheit mit Gewalt vermischt
und euch ein Leben ohne Unterdrückung und Ausbeutung gar nicht mehr vorstellen könnt?“
„Aber Gott“, erwidere ich,
etwas erschlagen von dieser Anklage,
„wir haben uns doch schon gebessert, hier in Deutschland auf jeden Fall.
Umweltschutz ist uns wichtig.
Und fast 70 Jahre leben wir ohne Krieg.“
„Tatsächlich?“, fragt der Arzt ironisch und deutet auf eine Weltkarte,
die ich bisher übersehen habe und auf der es an vielen Stellen rot flackert.
„20 Kriege z.B. im Jahr 2011“, sagt er, „und viele gewalttätige Konflikte
und in vielen hängt ihr mit drin, meine Liebe.  
Und die Gewalt bei euch auf den Straßen, in den Schulen, die Gewalt in eurem Reden und Handeln, immer wieder?“
„Zugegeben“, sage ich hastig,
„aber den Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit haben ganz viele,
das musst du zugeben.
Nur der Weg dahin ist uns unklar. Wie soll das gehen? Wie kommen wir da raus?“
Aber Gott ist noch nicht nach einer Antwort zumute. Er traktiert mich weiter:
„Warum
verharrt  ihr abgewandt in dauernder Abkehr?, frage ich mich.
Warum halten die Menschen  fest an der Täuschung und weigern sich umzukehren?“
Und ich erkenne, dass er sich seit der Zeit Jeremias mit dieser Frage herumschlägt.
„Ich weiß es nicht genau“, erwidere ich kleinlaut.
„Ich auch nicht“, sagt Gott streng,
und deutet auf die Bilder an der Wand.
„Ich habe mir den Mund fusselig geredet durch meine Boten und ihr hört nicht. Nicht sehr.
Ich habe den Menschen wirklich aufmerksam zugehört:
Unrechtes sprechen sie.
Weißt du eigentlich wie lang die Liste von Schimpfwörtern und Gemeinheiten ist, die ihr euch an den Kopf werft? Willst du sie sehen?“
Ich schüttele schnell den Kopf.
„Und kaum einer bereut sein böses Tun etwa mit den Worten: Was hab ich doch getan?!
Ihr seid wie die Lemminge, ihr lauft wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.“
„Also, Gott“, sage ich,  „jetzt ist aber Schluss.
Du tust ja so, als ob wir nur mordend durch die Gegend rennen.
Aber wir haben die Menschenrechte entwickelt
und es gibt viele Menschen, die helfen wollen und es auch tun,
wir haben soziale Gesetze, die Armut verhindern.“
„Naja“, sagt Gott.
„Naja, gut“, sage ich, „die zumindest das Ziel haben.“
„Aber“, sagt Gott, „warum ist dann soviel Hunger und Ungerechtigkeit in der Welt, wenn doch alles da ist, was ihr braucht?
Warum soviel Gewalt?
Warum so wenig Reue und Selbstkritik?“
„Ach Gott“, sage ich, „es ist so schwer anzuhalten.
Und die Mächtigen hören nicht auf uns.
Und warum machst du mich fertig und stellst mir die Fragen, die du mir beantworten solltest?
Ich komme doch zu dir, weil ich Hilfe brauche und die Dinge anders haben möchte.
Ich habe den Eindruck, du kannst uns gar nicht mehr leiden.“
Er blickt mich an und wird etwas milder:
„Wenn ihr mir egal wärt, würde ich mich ja nicht so aufregen.
Ich hänge sehr an euch und habe meine größten Hoffnungen auf euch gesetzt und auch noch nicht ganz aufgegeben.
Hör zu“, sagt er und legt vor mich eine Karte von  der Flugroute der Störche.
„Du kennst doch mein Wort aus der Rede Jeremias: Selbst der Storch unter dem Himmel kennt seine festen Zeiten?“
Ich nicke.
„Stell dir mal vor“, fährt Gott fort, „ein Storch macht sich im Herbst nicht auf den Weg und bleibt in Berlin.
Der friert sich doch die Beine ab.
Also hört er auf seine innere Uhr, die ihm sagt: Jetzt fertig machen zum Abflug und ab nach Afrika. Klar?“
Ich nicke wieder.
„Ihr habt auch so eine Uhr in euch.
Der Schnee fällt schon bei euch, schon lange. Es ist schon lange Zeit für den Abflug.
Und die einzige Chance die ihr habt, ist anzuhalten und zurück zu blicken,
euch zu fragen, wie ihr so handeln konntet.
Und ihr sollt erst dann weiter gehen, wenn ihr euch darüber im Klaren seid,
welcher Weg für euch und die anderen am besten ist.
Dann aber brecht auf.
Und dann hört ihr nicht auf die Stimme der Gewalt oder Selbstsucht,
sondern auf die Stimme der Vernunft und der Liebe,
durch die ich versuche, zu euch zu dringen.
Dann schafft ihr es auch umzukehren, wenn ihr euch verrannt habt.
Macht euch das zur Regel.
Haltet an.
Jeden Tag.“
„Aber wie...“, bringe ich gerade noch heraus,
aber Gott macht eine abwehrende Handbewegung und schickt mich raus und ruft: „Der Nächste bitte...“
Da stand ich nun und war nicht viel klüger als zuvor.
Anhalten.
Ist das der Rat, den Gott uns gibt?
Anhalten, um umzukehren?

Vielleicht anhalten wie die,
die sich zur Zeit viele Gedanken machen über ihre Kindheit im Krieg
und ihr Verhältnis zu ihren Eltern und versuchen daraus zu lernen
und wir mit ihnen, wie an zwei Abenden hier bei uns im Oktober.
Vielleicht anhalten wie Jesus es getan hat,
als er in einer grausamen und vom Militär und  Ausbeutung gezeichneten Welt zur selbstlosen Liebe aufrief, 
zu Frieden um jeden Preis und zum Vertrauen in die Fürsorge Gottes?
Vielleicht anhalten wie in diesen Tagen der Ökumenische Rat der Kirchen,
der auf seiner 10. Vollversammlung über alle Unterschiede hinweg bat: 
„Gott des Lebens, weise uns den Weg zu Gerechtigkeit und Frieden“
und sich bewusst machte, dass sie alle den Weg durch eine kriegerische Welt und von Ungerechtigkeit gezeichnete Welt als Kirche Jesu Christi nur gemeinsam schaffen.
Vielleicht anhalten, wenn wir merken,
wie Wut über Verletzungen uns überkommt
und durchatmen und uns nicht hinreißen lassen.
Anhalten und denen zuhören und geduldig zu helfen versuchen,
die nicht alleine anhalten können
und sich verstricken in Hass und Gewalt
und ihr Leben versuchen durch Drogen und Alkohol  in den Griff zu bekommen.
Anhalten und mitleiden,
wenn Millionen von Menschen durch einen furchtbaren Sturm getötet oder obdachlos werden und dann genau zu wissen:
Das Mindeste ist, nicht in zynische Reden auszubrechen wie die FAZ
und eine Verbindung von Tornado und Treibhauseffekt zu leugnen, um der eigenen Beruhigung willen,
sondern als ersten Schritt das Sparschwein zu plündern und Geld zu schicken für das Nötigste und dann weiter hinsehen
und sich dann doch Gedanken zu machen über den nächsten Schritt zur Bewahrung der Schöpfung.
Vielleicht auch anhalten, wie wir es zur Zeit hier in der Gemeinde versuchen und zu überlegen,
was sind unsere Ziele,
wofür sind wir da als Kirche Jesu Christi
und wer sind unsere Verbündeten hier in dieser Stadt?
Anhalten, jeden Tag, jeder  und jede für sich,
und wenn es nur für ein paar Minuten ist,
anhalten und mich fragen:
Was ist das Gute in meinem Leben, was sehe ich an Schwierigem?
Was ist mein nächster Schritt?
Und bei diesen Fragen Gott nahe zu wissen.
Anhalten und immer wieder die Demut lernen, dass wir Menschen sind,
begrenzt in unserer Weitsicht und unserer Fähigkeit Frieden zu lernen und zu leben,
aber geliebt, immer noch geliebt und begleitet von Gott,
dessen Stimme uns durch einen anderen Propheten aufmunternd sagt:

Es ist dir doch  gesagt, Mensch, was gut ist, und was Gott von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.


Klein sind wir, nicht groß,
auch wenn wir uns ausgebreitet haben über die ganze Welt,
klein, aber oho, im Schlechten, aber auch im Guten.
Wollen wir wirklich von den Rechtsordnungen Gottes nichts mehr wissen,
wie Gott es durch den Propheten Jeremia beklagt?
Wir kennen sie, kennen sie genau,
die Gesetze des Lebens und der Liebe.
Halten wir gemeinsam an, immer wieder, und lassen sie uns auch gesagt sein.
Amen









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