Sonntag, 11. August 2013

Predigt Lk 7, 36 - 50



Zeit, hat Albert Einstein gesagt, ist etwas Relatives.
Und er erklärt:
 „Wenn man zwei Stunden lang mit einem netten Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute.
Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität.“
Ferienzeit gleicht wohl der ersten Kategorie.
Wo sind bloß die 6 langen Wochen geblieben?
Ein Teil davon jedenfalls blieb in Dänemark,
eine Zeit, die wir mit 16 Jugendlichen und einigen Erwachsenen dort verbracht haben und uns neben Kopenhagenreisen, Kartenspielen, Schwimmen
auch Gedanken über die Zeit gemacht haben,
unsere Lebenszeit und die Art und Weise, wie wir sie leben.
Manchmal, diese Erfahrungen haben einige von euch auch gemacht,
ändern sich die Zeiten, aber man selber hängt noch in der alten Zeit fest oder wird dort festgehalten.
Ich selber habe mich verändert, möchte anders weiter machen, neu beginnen, doch das ist nicht so leicht.
Die anderen haben noch zu viele Erinnerungen an die alte Zeit und an mich, an meine Rolle in ihr.
Sie können sich das nicht vorstellen, dass einer oder eine die alte Zeit abschüttelt wie eine Schlange eine alte Haut.
Und geht das überhaupt?
Damit beschäftigt sich der Predigttext für den heutigen Sonntag.
Die Bibel erzählt im 7. Kapitel des Lukasevangeliums, Vers 36:

36 Es bat Jesus aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und Jesus ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch.

Der Gastgeber heißt Simon. Simon ist überzeugter Pharisäer, was soviel wie Abgesonderter heißt.
Die Pharisäer haben dafür gesorgt, dass das Volk Israel seine Identität auch ohne den von den Römern zerstörten Tempel erhält.
Die Gebote Gottes ganz genau im Alltag befolgen, ihn mit dem eigenen Leben heiligen,  das ist ihnen wichtig.
Darauf achten sie, bei sich und auch bei anderen.
Manchmal sehr streng.
Simon gehört zu den aufgeschlossenen Pharisäern.
Ihn interessieren neue, lebensnahe Auslegungen der Gebote immer.
Er hat schon einiges von diesem Wanderrabbi gehört, von seinen Heilungen, seiner Lehre vom Reich Gottes, das die Welt auf den Kopf stellt.
Er macht sich auf einiges gefasst, denn er hat auch gehört, dass Jesus sich immer wieder mit merkwürdigen Leuten umgibt.
Schon die Schar seiner Anhänger, seiner Jünger besteht aus rauen Fischern, Zöllnern,
unreinen Menschen also, mit denen man sich als Mann der Gebote eigentlich nicht abgibt. 
Und Wein und gutes Essen scheint eine wichtige Sache zu sein für diesen merkwürdigen Mann Gottes.
Simon freut sich auf einen Gedankenaustausch, aber er ist auch vorsichtig.
Das Abendessen steht bereit.
Wein gibt es, aber nur einen Krug.
Die Schüsseln mit Wasser für die Füße, mit der sonst jeder Gast begrüßt wird, die hat er  in der Aufregung vergessen.
Man setzt sich gleich zu Tisch, isst, plaudert höflich.
Jesus berichtet von seiner letzten Reise. 
Ein Essen unter gebildeten Menschen.
Die Jünger bleiben stumm, essen, trinken, eine leicht angespannte Atmosphäre. Da, so berichtet die Bibel, geschieht Folgendes:

37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass Jesus zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl
38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl.

Die Frau, die da so einfach in diese Männerrunde eintritt, ist eine Prostituierte.
Vielleicht eine Witwe, die sich nicht anders ernähren kann, vielleicht eine Waise, die von ihren Verwandten nicht mehr unterstützt wird, wir wissen es nicht.
Sie dagegen weiß, dass es für sie k
ein Zurück mehr gibt aus ihrem Dasein als Hure.
Sie ist stadtbekannt und kein Mann wird mehr eine Ehe, eine ernsthafte Beziehung mit ihr ins Auge fassen.
Aber sie hat sich etwas erhalten, das nun deutlich hervortritt:
Sie kann die Enge ihres Daseins noch empfinden und daran leiden,
weil sie ihre Liebesfähigkeit, ihre Zärtlichkeit nicht aufgegeben hat.
In ihr gibt es immer noch den Wunsch und auch die Fähigkeit, sich anderen zu nähern und ihnen jenseits von Geld und dem Befriedigen sexueller Bedürfnisse einfach nur Gutes zu tun.
Sie hat sich ihren Liebesreichtum erhalten, aber sie merkt auch, dass der immer mehr zerstört wird durch das, was sie da tut, Tag für Tag.  
Sie will da raus, aber keiner wird ihr das erlauben.
Kein Zutritt in eine neue Zeit.
Dieser Jesus, so hat sie gehört, predigt eine neue Zeit,
eine Zeit der Umkehr zu einem liebevollen Gott,
der jede einlädt ist, die die alte Zeit hinter sich lassen will,
wie eine Schlange ihre alte Haut.
Wie das gehen soll, weiß sie nicht genau.
Auf ihrer Haut kleben die Erfahrungen mit hunderten Männern fest,
ihrer Seele ist zutiefst verletzt von der Verachtung, mit der die Männer ihr trotz ihrer Begierde begegnen. 
Aber sie will es versuchen.
All ihr Erspartes nimmt sie und kauft teures Öl, Öl, das nur für die Salbung eines Königs verwendet wird.
Sie kommt hinein, sieht Jesus und etwas löst sich unter seinem Blick in ihr.
Sie erkennt, dass er mehr sieht als die anderen.
Zum ersten Mal seit langem begegnet ihr ein Mann mit einem liebevollen Blick, der auf ihre eigene Liebe antwortet.
Ein Tränenstrom bricht aus ihr hervor, der das vergessene Wasser von Simon reichlich ersetzt.
Sie wirft sich vor Jesus hin, ihre Tränen fallen auf  seine Füße,
sie küsst seine Füße überschwänglich,
sie trocknet sie mit ihren Haaren
und dann, als die Tränen allmählich versiegen, öffnet sie die Flasche und salbt seine Füße, reibt sie ein, massiert sie, küsst sie immer wieder.
Sie gibt sich ihm hin und findet sich dabei.
Die anderen sind wie erstarrt und beobachten die Szene,
diese Frau ohne jede Scham,
diesen Jesus, der die Berührung zulässt in aller Öffentlichkeit und sie offensichtlich sogar genießt,
der gemeinsam abhebt mit dieser Frau.
Die Bibel lässt diese Stimmung zu,
aber sie verliert auch nicht den Blick auf all das, was diese Stimmung,
diese Befreiung der Frau in eine neue Zeit hinein, verhindert.
Und das sind vor allem die Gedanken und die Starrheit der anderen, die Jesus sehr wohl wahrnimmt, auch wenn niemand sie ausspricht.  
Die Bibel erzählt weiter:

39 Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte:
Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.
40 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen.
Er aber sprach: Meister, sag es!
41 Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig.
42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?
43 Simon antwortete: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat.
Jesus aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.
44 Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet.
45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen.
46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt.
47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.
48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben.
49 Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?
50 Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!

Jesus lebt in einer anderen Welt,
er lebt schon in der Zeit, von der die anderen glauben, dass sie irgendwann mal anbrechen wird,
die Zeit, in der Gott die Welt zum Guten verändern und auf den Kopf stellen wird.
Jesus sagt: Schon jetzt sehen die Blinden, jetzt gehen die Lahmen, jetzt hören die Armen gute Nachrichten.
Schon jetzt fließt die Zeit anders, leichter, in einem weiten Raum.
Das können nicht alle wahrnehmen.
Das merken die, die loslassen, fließen, die viel Liebe in sich tragen und den Schmerz über zerstörtes Leben empfinden können. 
Das merkt auch eine Prostituierte, dass sie gehen darf,
raus aus ihrem Leben, das Gott ihr das zutraut.
Darauf vertraut sie plötzlich, auch wenn es ihr wie ein Wunder vorkommt, nicht ganz real.
Aber sie merkt plötzlich, wieviel Kraft sie eigentlich hat und an wen sie sie verschwendet.
Jesus versucht, auch Simon mitzunehmen.
Er nennt seine Starrheit mit Namen, du hast mir weder Wasser gegeben, noch mich zur Begrüßung geküsst, sagt er.
Aber er traut Simon Einsicht zu,
er lobt ihn, als Simon das Gleichnis mit den Schuldnern richtig deutet.
Er traut ihm zu, auch diese Frau mit anderen Augen zu sehen, ihre Liebe zu erkennen, ihre Hingabe und sich anders zu ihr zu verhalten.
Ob das geklappt hat, wissen wir nicht, auch nicht, ob sich das Leben der Frau wirklich geändert hat.
Das letzte Wort dieser Geschichte ist verheißungsvoll.
Das letzte Wort lautet Frieden.
Dein Glaube hat dir geholfen. Geh hin in Frieden, sagt Jesus der Frau.
Frieden, Schalom, meint nicht einfach sich gegenseitig in Frieden und sein lassen, wie man ist.
Frieden im biblischen Sinn ist Bewegung,
ein Ausgleich zwischen den Menschen, der immer wieder neu gesucht werden muss und mit den Veränderungen fertig werden muss.
Aber Frieden, so wie ihn Jesus gelebt und weitergegeben hat,
hat auch immer etwas Leichtes,
die Leichtigkeit von warmen Ferienzeiten,
den Geschmack von französischem Wein,
die Weichheit langer Haare und feinfühliger Hände,
die Heiterkeit und den Humor, den wir immer wieder brauchen, wenn wir miteinander zu tun haben,
und die Offenheit, sich mit allen an einen Tisch zu setzen und zuzulassen, was da geschieht.
Frieden in Jesu Sinn öffnet uns eine Freiheit, die wir spüren,
wenn wir uns Zeit nehmen, uns zu öffnen,
dann können wir unsere eigene Schuld, unsere Verstrickungen betrachten,
ohne daran zu verzweifeln,
und wir können sie Gott anvertrauen, dass er sie löst,
wir können unseren Wünschen nach Veränderung trauen und sie uns gegenseitig zeigen,
uns lösen und davonfließen, wie es die Frau zu Füßen Jesu getan hat,
uns nicht gegenseitig aufhalten,
sondern liebevoll begleiten, wie es Jesus der Frau gegenüber getan hat.

Das Leben in dieser Gemeinde,
die sich nach diesem Frieden benannt hat, ist manchmal nicht so leicht,
von schweren Entscheidungen geprägt, durchaus auch von schwerer Arbeit.
Aber es gibt auch anderes,
es gibt Menschen, die immer wieder Heiterkeit und Lachen hineinbringen,
wie Marlon und andere Jugendliche und dadurch andere anziehen, wie zum Beispiel z. Zt. 67 neue Konfirmanden und neue Teamer.
Es gibt Menschen, die uns trauen und sich uns anvertrauen,
ihre Lasten mit uns teilen,
ihren Wunsch aufzubrechen in eine neue Zeit und  uns damit helfen,
alte Bilder loszulassen und ungewohnte Wege zu gehen.
Es gibt hier die Offenheit, bei allen Gegensätzlichkeiten und Widersprüchen, sich immer wieder zu begegnen, sich zu verzeihen und mit neuen Augen zu betrachten,
einen Teamgeist, von dem ich mir wünsche,
dass er nicht nur eine Fußballmannschaft prägt, sondern auch hier immer mehr Menschen sieht und beteiligt,
Wir feiern gemeinsam Gottesdienst und ertragen es, wenn neue Menschen eine neue Atmosphäre mit sich bringen.
Auch wenn wir manchmal wie Simon den Kopf schütteln und denken:
Muss das denn sein?
Wir bewegen uns miteinander und ich wünsche mir, dass das ausstrahlt,
andere einlädt sich zu öffnen und mit uns  den Frieden, den Gott sich für diese Welt wünscht, zu leben.

Noch ist die Ferienzeit spürbar und sichtbar,
in der Wärme der Sonne,
in den erholten, gebräunten Gesichtern.
Lassen wir das jetzt mit dem Reden.
Singen wir lieber.
Loben wir Gott, der unsere Zeit in Händen hält,
liebevoll unsere Augen öffnet für das, was viele sich nicht trauen zu sehen, wie es Jaspers Taufspruch ausdrückt,
eben die Zeit Gottes, die uns immer und ewig offensteht, in ihr zu leben. Gemeinsam.
Amen



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