Sonntag, 8. November 2015

1 Thess 5, 1-11 Drittletzter Sonntag 2015


1Thess 5,1-6(7-11)

Wir schauen und warten.
Blicken auf das gelobte Land,
eine Verheißung von Gerechtigkeit und Freiheit.
Ein Leben im Licht der Liebe Gottes.
Doch während wir schauen, rückt es weiter in die Ferne.
Einst war es zum Greifen nah.
Da war Er noch da und behauptete:
Das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Er weckte unsere Träume vom Frieden in der Welt.  
Er lehrte uns glauben:
Jetzt ist die Zeit der Gnade und ihr seid die Friedensstifter mit Gott an eurer Seite.
Er heilte, er vergab und öffnete neue Wege, vielen von uns.
Er gab den Herzen Ruhe und Verzweifelten neuen Mut.
Wir erwarteten immer mehr,
Die ganze Welt wird sich durch ihn zum Guten verändert.
Das Reich Gottes ist mitten unter uns durch ihn.
Doch nun warten wir schon lange, warten in Thessaloniki.
Warten, dass er wiederkommt, wie er es versprochen hat.
Jesus ist tot, 30 Jahre schon.
Und wiedergekommen ist er nicht wie versprochen, um die Welt zu wandeln, ein für allemal.
Das Licht der Hoffnung, das er entzündet hat, weicht.
Wir spüren, wie die Finsternis eines „Es hat doch keinen Sinn“ in unser Leben dringt und seinen Geist verdrängt.
Die Gewalt der römischen Schwerter haben wir direkt vor der Nase, hier in Thessaloniki.
Römischer Friede?
Menschen sterben nach wie vor an römischen Kreuzen.
Paulus, fragen wir, wenn 30 Jahre ins Land gegangen sind, wer sagt, dass es nicht noch einmal 30 werden oder 50 oder 100 oder gar 1000?
Und Glaube, Liebe, Hoffnung – Sind das wirklich die Kräfte, auf die wir bauen können?
Was können wir noch erwarten?
Hast du nicht einen Plan B, wenn die Welt sich einfach weiter dreht,
erbarmungslos?
Und Paulus antwortet. Nein, hier gibt es keinen Plan B,
hier gibt es nur Plan A: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Punkt.
Das Reich Gottes kann jederzeit sichtbar für alle Welt anbrechen.
Also, Doppelpunkt:
Lebt weiter so, liebt, glaubt und erhofft alles von ihm,
lebt erwartungsvoll, als könnte Jesus jederzeit vor eurer Tür stehen und anklopfen.
Und Paulus schreibt ihnen:
Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; 2denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. 3Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr –, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau und sie werden nicht entfliehen.
4Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. 5Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. 6So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
7Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. 8Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. 9Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, 10der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. 11Darum ermahnt euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.

Sie schaut und wartet.
Schaut hinüber zum gelobten Land.
Unerreichbar fern ist es, auch wenn es nur 150 km nach Pensylvannien sind.
Sie erwartet etwas. 
Auf jeden Fall, dass es nicht so bleibt, wie es ist, so finster, so hoffnungslos.
So will sie nicht leben.
Ausgebeutet als Sklavin in Maryland, in den Südstaaten der USA.
Das Verderben kann schnell kommen,
das weiß sie,
eine Peitsche, ein Verkauf in eine andere Gegend, ungeachtet der Familienbindungen.
All das ist passiert. All das kann passieren. Auch ihr.
Aber: So muss sie nicht leben.
Denn Gott ist da und Gott kommt.
Ihre Mutter hat ihr von ihm erzählt,
dem kleinen Sklavenmädchen mit dem gebrochenen Kopf durch einen Stoß des Sklavenjägers.
Hat ihr den Kopf gefüllt mit Geschichten vom Land, in dem Milch und Honig fließen und Menschen frei leben.
Geschichten von Aufstand und Flucht,
Geschichten von Gottes Hilfe und Bewahrung,
Geschichten der Bibel im allgemeinen und von Moses im Besonderen.
Sie erwartet viel.
Und bleibt wach und nüchtern in der Verzweiflung des Jetzt.
Gott ist da und Gott kommt.
Auch in die Welt, in der sie lebt.
Gott will nicht die Finsternis, sondern ein Leben im Licht. Für alle.
Nichts muss so bleiben, wie es ist.
Und es wird nicht so bleiben.
Es gibt das gelobte Land, den Norden der USA.
Und es gibt einen Weg dorthin.
Ob sie das schafft?, fragt sie sich.
Sie heißt Hariet Tubman, lebt in den Südstaaten Mitte des 19. Jahrhunderts.
Ihr Leben lang war sie Sklavin.
Ausgeliefert den weißen Herren.
Aber nahe ist sie bei Gott, der ihr helle Bilder schickt,
Bilder einer neuen Welt, eines neuen Lebens.
Halluzination sagen die einen, Wahrheit, meint sie.
Und sie betet.
Erst kleine Gebete, dass ihre Familie zusammen bleiben darf.
Aber sie lebt mit Gott, und so werden auch ihre Bitten größer.
Der Tod des Plantagenbesetzers kommt darin vor.
Als der eine Woche später tatsächlich stirbt, bereut sie dieses Gebet.
Auch hat sich dadurch nichts zum Besseren gewandelt.
Die Herren wechseln, aber bleiben sich gleich.
Mit Gott an ihrer Seite wagt sie sich weiter.
Er ist Herr der Geschichte.
Er hält sich nicht an die Gesetze der Sklavenhalter und lässt sich auch vom Tod nicht aussperren.
Wo er ist, ist Licht und Hoffnung und Liebe.
Ihm ist jeder Mensch lieb und teuer.
Sie erwartet mehr, betet um Freiheit, ungeheuerlich, undenkbar.
Sie lebt nüchtern und wach, immer bereit aufzubrechen in ein neues Leben, den Gefahren zum Trotz,
sie gibt sich nicht dem Zorn hin, spart ihre Kräfte.
Dann kommt der Tag, den Gott ihr öffnet. Die Chance.
Und sie ergreift sie und geht los.
Auf den geheimen Wegen, der underground railroad, macht sie sich auf den Weg,
verlässt ihren Mann und ihre Geschwister für die große Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben.
Und schafft es über die Grenze nach Pennsylvanien , von der sie nie gedacht hatte, dass sie zu überwinden sei.
Sie erzählt.
Als ich merkte, dass ich die Grenze überschritten hatte, schaute ich auf meine Hände, um zu sehen, ob ich immer noch dieselbe Person war.
Es war alles so herrlich; die Sonne schimmerte wie Gold durch die Bäume und über die Felder und ich fühlte mich, als wäre ich im Himmel."

Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.   Ihr aber, liebe Brüder und Schwestern, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme.
Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.

In ihrem neuen Zuhause im Licht erfährt sie vom Leben in der Finsternis,
von dem drohenden Verkauf ihrer Nichte und deren Kinder.
Sie bleibt nicht stehen bei ihrer eigenen Freiheit, ihrem persönlichen Traum.
Sie erwartet mehr.
Von Gott und für ihre Leute. Für die Welt.
Sie kehrt als einzige Geflohene wieder zurück in die Finsternis,
trotz der Gefahr, als entflohene Sklavin gefasst zu werden.
Sie hilft den Menschen ihrer Familie zur Freiheit.
Und bleibt auch dabei nicht stehen, sondern steht fremden Sklaven bei und führt sie über den Underground Railroad sicher in die Freiheit.
Und scheitert nie.
Es ist, als ob Gott sie in jeder Lage schützt.
Ich war für acht Jahre Schaffnerin der Underground Railroad und ich kann von mir behaupten, was nur wenige andere Schaffner sagen können – ich habe meinen Zug nie entgleisen lassen und ich habe niemals einen meiner Passagiere verloren.

Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum ermahnt euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.

Mit 93 Jahren stirbt sie im Jahr 1913 in Auburn, New York,
verehrt und bekannt als eine, die es wagte, von der Freiheit zu träumen
und nicht dabei stehen blieb,
sondern alles von Gott erwartete, für sich und andere.
Ihr Codename war Moses und bei dem Lied: Go down, Moses haben viele Afroamerikaner in den Südstaaten an sie gedacht und geglaubt:
Gott ist da und führt in das Licht der Freiheit. Heute. Jetzt.
Und wir singen es.

Lied: When Israel went to Egyptsland.

Wo schauen wir hin und mit welchen Erwartungen?
Wonach halten wir Ausschau?
Ihr seid alle Kinder des Lichts und Kinder des Tages behauptet Paulus und würde das sicher auch heute noch schreiben.
Gott traut uns alles zu, heißt das doch.
Und alles können wir von ihm erwarten.
Auch dass er kommt, wie ein Dieb in der Nacht oder vielleicht besser
wie ein unverhoffter Gast, der unser Leben und die Welt umkrempelt.
Nichts muss so bleiben wie es ist.
Das haben uns Menschen vorgelebt.
Wenn Gott kommt, dann wird es nicht so bleiben.
Wenn Gott kommt, kann keiner etwas dagegen tun.
Er erwartet, dass wir ihm die Tür öffnen.
Aber er lässt sich sowieso nicht aussperren.

Nicht von den Pflichten unseres Alltags.
Auch nicht von unseren Fragen.
Und von keiner Macht und keinem Sklaventreiber dieser Welt.
Die müssen weichen.

Wie sie schon gewichen sind, wenn Kinder des Lichts wie Harriet Tubman  ihnen die Stirn bieten in Seinem Namen.
Wenn er kommt, dann kommt auch sein Licht.
Und scheint auf alles.
Auch auf meine oft gedämpften Erwartungen,
wenn ich auf 2000 Jahre zurückblicke,
auf Kampf und Leid, an das mich der 9. November immer besonders erinnert
und ich mich frage: Warum Gott und wo warst du?
Eine befriedigende Antwort habe ich darauf in 52 Jahren nicht gefunden, gebe ich zu.
Aber ich frage mich auch:
Was wäre unser Glaube wert,
wenn wir nicht mehr alles von Gott erwarten,
wenn wir nicht mehr damit rechnen, dass Jesus schon heute oder morgen an unserer Tür steht und anklopft.
Er kommt, behauptet Paulus, unerwartet, lasst mich mit Zeiten und Stunden in Ruhe, ich sage euch, er kommt.
Er hat es versprochen. Also könnt ihr euch auf etwas freuen.
Erwartungsvolle Freude, das ist eure Haltung im Leben,
voller Freude auf Gott zuleben.
Eine Freude, die uns antreibt alles für diese Welt zu hoffen,
alles von den Menschen zu erwarten, auch das Gute.

Stellen wir uns das vor, diesen Tag, wenn er kommt oder diese Nacht.
Er kommt und klopft an unsere Tür.
Was für eine Freude! Und wie wir uns vorbereitet haben!
Jeden Tag rechnen wir schließlich damit.
Saubere Bettwäsche halten wir immer bereit, damit er es bequem hat.
Der Kühlschrank ist immer gefüllt.
Die wirklich wichtigen Dinge sind immer erledigt.
Denn wir wissen: Wenn Jesus kommt, dann brauchen wir spontan viel Zeit.
Zeit und Kraft.
Garantiert wird er mit uns zu den Flüchtlingsunterkünften gehen.
Wir kennen ihn doch.
Und zu den Baustellen unseres Lebens und der Welt.
Gemeinsam schauen wir uns die an und tun, was getan werden kann,
und er gibt uns die Hoffnung und den Glauben und die Liebe dazu,
verleiht unserer Sehnsucht nach Frieden Flügel.
An dem Tag werden wir das schaffen,
alle Schwerter werden zu Pflugscharen umgewandelt,
keiner hungert mehr, alle werden satt.
Er nimmt uns an der Hand, krempelt unser Leben und die Welt um.

So leben, als ob er morgen vor unserer Tür stünde,
so leben, als sei er mitten unter uns, so leben die Kinder des Lichts.

Menschen wie Harriet Tubman haben so gelebt.
Sie hat Gott eingeladen in ihr Leben,
ihm Raum gegeben für die wirklich wichtigen Dinge,
für Freiheit und Gerechtigkeit.
sie hat zu jeder Zeit, zu jeder Stunde damit gerechnet, dass Gott da ist und ihr Leben bewegt und ihr beisteht.
Sie hat sich nicht bei einem „Wenn er käme“ aufgehalten.
Sie war nicht blind gegen die Grenzen der Welt.
Und es war ihr klar, dass noch vieles im Argen ist und bleibt.
Aber sie hat die Grenze zu einem befreiten Leben mutig überschritten und andere mitgenommen, das getan, wozu Paulus die Gemeinde ermahnt:
Anderen beizustehen, als Kind Gottes, das schon in seinem Licht lebt.
Das Reich Gottes, Gott selbst ist mitten unter euch. Schon jetzt.
Darauf hat sie sich verlassen.
Und darauf können wir uns verlassen.
Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages.
Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.
So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben.

Jetzt ist die Zeit der Gnade und ihr seid die Friedensstifter mit Gott an eurer Seite, mit Jesus in unserem Leben.
Solange wir Atem holen ist er da.
Er heilt, er vergibt und öffnet neue Wege.
Er gibt den Herzen Ruhe und Verzweifelten neuen Mut.
Und wird es wieder tun. Und wieder.
Wir dürfen viel erwarteten, immer mehr, viel mehr, als wir es oft tun.
Erwarten wir freudig, dass durch Gott schon morgen die Welt ein anderes Gesicht hat.
Planen wir das ein.
Immer.
Bereiten wir uns vor.
Jederzeit.
Und tun alles dafür.
denn wir wissen, wie es die Theologin Silja Walter in einem Gebet ausdrückt:

Jemand muss zu Hause sein, Herr, wenn du kommst.
Jemand muss dich erwarten, unten am Fluss vor der Stadt.
Jemand muss nach dir Ausschau halten Tag und Nacht.
Wer weiß denn, wann du kommst?
Herr, jemand muss dich kommen sehen
durch die Gitter seines Hauses
durch die Gitter –
durch die Gitter deiner Worte,
deiner Werke
durch die Gitter der Geschichte,
durch die Gitter des Geschehens
immer jetzt und heute in der Welt.
Jemand muss wachen unten an der Brücke,
um deine Ankunft zu melden,
Herr, du kommst ja doch in der Nacht wie ein Dieb.
Wachen ist unser Dienst.
Wachen.
Auch für die Welt.
Sie ist oft so leichtsinnig, läuft draußen herum,
und nachts ist sie auch nicht zu Hause.
Denkt sie daran, dass du kommst?
Dass du ihr Herr bist und sicher kommst?
Herr, und jemand muss dich aushalten,
dich ertragen, ohne davonzulaufen.
Deine Abwesenheit aushalten,
ohne an deinen Kommen zu zweifeln.
Dein Schweigen aushalten und trotzdem singen.
Dein Leiden, deinen Tod mitaushalten und daraus leben.
Das muss immer jemand tun mit allen andern und für sie.
Amen


(aus: Silja Walter, Das Kloster am Rande der Stadt, Zürich 1971/1980; gefunden in: Medard Kehl, Und was kommt nach dem Ende [s.u. Nr. 6], S. 111f)




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